Aargauer Persönlichkeit: Paul Siegwart
Wer vom linken Aareufer über den Pont Neuf nach Aarau kommt, kennt ihn: Den Turm des Aarauer Elektrizitätswerks an der Erlinsbacherstrasse. Seit seiner Erbauung 1913 steht er als stadttorartiges Wahrzeichen vor der Stadt Aarau. Die Pläne zu diesem Bauwerk stammen von Paul Siegwart. Wer war dieser Architekt und welche weiteren Werke gibt es von ihm?
Die Familie Siegwart
Paul Siegwart erblickte im Jahr 1876 in Flüelen UR das Licht der Welt.
Er wurde in eine wichtige Urner Familie hineingeboren: Seine Vorfahren waren als Glasmacher tätig gewesen und hatten im 18. und 19. Jahrhundert an verschiedenen Orten in der Zentral- und Südschweiz Glashütten eröffnet. Das von ihnen und weiteren Familien in der Region hergestellte Glas wird nach Flühli im Entlebuch "Flühli-Glas" genannt. Hier errichteten 1723 die aus dem Schwarzwald stammenden Brüder Siegwart ihre erste Glashütte. Auch die berühmte Glasi Hergiswil NW geht auf die Familie Siegwart zurück.
Der Name Siegwart steht in der Schweizer Geschichte nicht nur für Künstlerisches, sondern auch für Politisches: Pauls Grossvater Constantin Siegwart-Müller (1801–1869) war als Luzerner Politiker in den turbulenten 1840er-Jahren einer der führenden Köpfe der katholisch-konservativen Seite. 1847 führte er als Kriegsratspräsident den Sonderbund der katholischen Kantone an.
Bei Constantins Enkel Paul schlug die künstlerische Ader der Familie durch, wie sie dies schon bei Pauls Onkel Ernst getan hatte, der als Fotografie-Pionier der Zentralschweiz gilt. Auch Paul war ein engagierter Fotograf und Zeichner. Ein Grossteil der Fotografien und Planaufnahmen des Urner Bands in der Bücherreihe Das Bürgerhaus in der Schweiz geht auf ihn zurück. Für den 1924 erschienen Band zum Bürgerhaus im Kanton Aargau nahm Siegwart die Pläne auf.
Das Interesse an Baudenkmälern inspirierte ihn auch zu aquarellierten Skizzen.
Sein Architekturstudium absolvierte Siegwart in Karlsruhe. Danach war er an verschiedenen Orten tätig, bis er 1901 nach Aarau zog. Hier wirkte er bis zu seinem Lebensende als selbständiger Architekt sowie als Lehrer am kurz zuvor eröffneten kantonalen Gewerbemuseum. In dem 1896 eröffneten Museum wurden verschiedene gestalterisch-künstlerische Fächer unterrichtet. Paul Siegwarts Fach war wahrscheinlich Holz- und Bautechnik, wobei er sich stets auch für das Kunstgewerbe interessierte.
Kirchen im Heimatstil
Siegwart machte sich einen Namen als Architekt für Kirchen und private Wohnbauten. Im Aargau ist er mit der 1907 nach seinen Plänen errichteten römisch-katholischen Kirche St. Anna in Menziken mit zugehörigem Pfarrhaus als Kirchenarchitekt präsent.
Das im damals hochaktuellen Heimatstil gestaltete Gotteshaus zeigt den Architekten als auf der Höhe der Zeit stehend. Dem Heimatstil bleibt er auch in der kurz danach 1910–1912 erbauten römisch-katholischen Herz-Jesu-Kirche in Flüelen treu. Die Kirche mit ihren Anklängen an den Barock und den Jugendstil gilt als Siegwarts Hauptwerk.
Wohnhäuser in Aarau
Der Architekt war auch für private Wohnbauten begabt, wie allein im Aarauer Zelgli-Quartier zwei Bauten belegen: Das Wohnhaus an der Zelglistrasse 13 mit seiner reich befensterten Stirnseite und dem tief hinab gezogenen Mansarddach von 1912 erbaute Siegwart für sich und seine Familie.
Das Haus an der Schanzmättelistrasse 33 wurde 1910 für den Komponisten und späteren Musikdirektor Emil Adolf Hoffmann und dessen Familie nach Plänen von Paul Siegwart erbaut. Wohl in diesem Haus kam am 18. April 1911 Emil Adolfs und Minas, geborene Fröhlich, Sohn Felix zur Welt, der später als Glasmaler, Grafiker, Maler und Illustrator internationale Bekanntheit erreichen sollte.
Bauen für die Industrie
Seine fruchtbaren Schaffensjahre um 1910 krönte Siegwart mit der Teilnahme am Wettbewerb für ein neues Turbinen- und Maschinenhaus des Aarauer Elektrizitätswerks. Obwohl Paul Siegwart mit dem zweiten Preis bedacht wurde, gelangte sein und nicht das Siegerprojekt zur Ausführung.
Im Turm wurde die Schaltzentrale für das neue Turbinen- und Maschinenhaus des 1893 in Betrieb genommenen Laufkraftwerks an der Aare untergebracht. Seit 1913 hat Aarau damit ein Wahrzeichen an seiner nordwestlichen Gemeindegrenze.
Siegwarts Vermächtnis
Siegwart blieb bis zu seinem frühen Tod mit 48 Jahren als Architekt aktiv: 1923 setzte er dem mittleren Hausteil des Reihenhaueses an der Aarauer Bachstrasse einen schmucken Quergiebel mit Mansarddach auf.
Sämtliche Bauten Siegwarts, von den Kirchen über den Industriebau bis zu den Wohnhäusern, zeichnen sich durch ein besonderes Gespür für das Verhältnis von Dach und Baukörper aus. Sein Stilmerkmal sind seitlich tief herabgezogene Teilwalm- und Mansarddächer. Einer über die Ohren gezogenen Wintermütze gleich, verleihen sie seinen Kirchen und Häusern eine schützende Behaglichkeit.
Siegwarts Schaffensspuren sind weitverzweigt und noch nicht erforscht: Sein Wirken an der Gewerbeschule Aarau, seine an der Landesausstellung 1914 in Bern und der Ausstellung des Schweizerischen Werkbunds 1918 in Zürich gezeigten Entwürfe für Innenräume harren ebenso der wissenschaftlichen Aufarbeitung wie die 118 Aufnahmen aus seinem fotografischen Nachlass im Staatsarchiv Uri (Richard Buser-Mengozzi).
- Ruedi Gisler-Pfrunder, "Von der Flüchtlings- zur Fotografenfamilie. Die Erfolgsgeschichte von Josef Ernst Siegwart und Paul Siegwart", in: Urner Wochenblatt, Ausgabe vom 14.8.2020, S. 13.
- Bauinventar Aarau, Wohnhaus Zelglistrasse 13, BA40019463, Wohnhaus Schanzmättelistrasse 33, BA40019429, Elektrizitätswerk Erlinsbacherstrasse 53, BA40019378, 2014.
- Online-Inventar der Kantonalen Denkmalpflege, Katholische Pfarrkirche St. Anna und Pfarrhaus in Menziken, SAK-MEN002. Online:SAK-MEN002 Menziken, Katholische Pfarrkirche St. Anna und Pfarrhaus, 1907 (Online-Inventar)(öffnet in einem neuen Fenster)
- Inventar der neueren Schweizer Architektur 1850–1920 INSA, Band 1, Städte Aarau-Altdorf-Appenzell-Baden, Bern 1984.
- Matthias Walter, Inszenierung des Heimischen. Reformarchitektur und Kirchenbau 1900– 1920, Basel 2020.
- Alfons Müller-Marzohl, Flüelen UR. Das Dorf und seine Kirchen (Schweizerische Kunstführer, Nr. 484/485), Bern 1991.
- Helmi Gasser, Die Seegemeinden. Die Kunstdenkmäler des Kantons Uri, Band 2 (Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Band 78), Basel 1986.
- Markus Lischer, "Siegwart", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.11.2011. Online: Online-Artikel(öffnet in einem neuen Fenster)
- Heidi Bossard-Borner, "Constantin Siegwart-Müller", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.12.2012. Online: Online-Artikel(öffnet in einem neuen Fenster)
- K[arl] R[amseyer], "Paul Siegwart", in: Schweizerische Bauzeitung, Band 83, Heft-Nr. 14, Zürich 1924, S. 166. Online in E-Periodica:Online-Artikel(öffnet in einem neuen Fenster)
- [Johann Ludwig] Meyer-Zschokke, "Architekt Paul Siegwart", in: Das Werk: Architektur und Kunst, Band 11, Heft-Nr. 3, Zürich 1924, S. 88. Online in E-Periodica: Online-Artikel(öffnet in einem neuen Fenster)