In der Siedlung

Im September 1923 werden die Ausgrabungsarbeiten auf der Riesi wieder aufgenommen. Mit Spannung erweitern die Männern den Schacht, in dem eine Hausecke liegt. Zum Vorschein kommt eine kleine Sensation.
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Die Männer um Reinhold Bosch graben nach der Sommerpause umso eifriger. Nach 10 Wochen ist die Neugierde kaum noch auszuhalten. Sie legen den vollständigen Grundriss eines Hauses frei. Damit leistet Reinhold Bosch Pionierarbeit − es ist das erste Haus aus der Bronzezeit in der Schweiz.
Ähnliche Bauten sind bereits an Seen in Deutschland ausgegraben worden. Ein Fachkollege aus Tübingen kommt vorbei und tauscht sich mit Reinhold Bosch aus. Der renommierte Prähistoriker Hans Reinerth wird später nationalsozialistische Ideen vertreten und nach dem 2. Weltkrieg von seinen Fachkollegen geächtet werden. Auch wenn die beiden zuerst unterschiedliche Interpretationen des Befundes vertreten, in einem sind sich die beiden Forscher einig: in diesem Haus hat eine Familie gelebt. Doch lassen sich Familienkonzepte der 1920er-Jahre und unser heutiges Verständnis von Familie auf die Urgeschichte übertragen?
Erst in den letzten Jahren änderten sich in der archäologischen Forschung die Modelle und Konzepte zu Familie und Gesellschaft. Wie sich nach heutiger Ansicht eine prähistorische Gesellschaft zusammensetzt und wie das Leben in einer bronzezeitlichen Siedlung womöglich aussah, das zeigt diese dritte Episode.
Der umstrittene Experte aus Deutschland
In den Ausgrabungstagebüchern erweist sich der heute umstrittene deutsche Prähistoriker Hans Reinerth als Boschs wichtigste Bezugsperson. Reinerth kommt im September 1923 persönlich nach Seengen, schaut sich die Ausgrabung an, interpretiert und gibt Anweisungen. Bosch ist dankbar für die Unterstützung, schreibt sogar einen Brief Reinerths wortgetreu ins Tagebuch ab und wechselt dabei, vielleicht unbewusst, in die alte Sütterlin-Schrift – denn auch Reinerth verwendet sie. Nur an einer Stelle äussert Bosch leise Zweifel an Reinerths Deutung: "Im Bericht Reinerths ist mir Verschiedenes nicht ganz verständlich. Ich werde später mit ihm darüber konferieren", hält er am 7. September fest.
Am 12. September zitiert Bosch im Tagebuch, was ihm Reinerth geschrieben hat:
Also arbeiten Sie mit Schneckengeduld weiter. Sie werden noch einschlagende Erfolge und viel Freude haben!
Als Hans Reinerth 1923 nach Seengen kommt, gilt der 23-Jährige bereits als einer der führenden Prähistoriker. Kurze Zeit später wird er Professor in Tübingen. Reinerth ist begeistert vom aufkommenden Nationalsozialismus und tritt 1931 der NSDAP bei. Künftig ist er ein Archäologe im Dienste der Nazis, macht Karriere als Leiter des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte. Mit seinen Ausgrabungen versucht er, die Überlegenheit der germanischen Rasse zu beweisen. Nach dem Krieg wurde Reinerth von den Fachkollegen weitgehend geächtet. Im Seetal aber war er bis in die 1970er-Jahre präsent, man fragte den Prähistoriker immer wieder um Rat (Autor: Jörg, Freiwilliger).
Ausgraben vor 100 Jahren
Archäologische Grabungen vor 100 Jahren beruhten oft auf privatem Interesse und Engagement. Auf dem Grabungsplatz Riesi am Hallwilersee tauchten laut Tagebüchern von Reinhold Bosch immer wieder solche interessierten Helfer aller Art auf. Neben Bosch, er war damals Bezirkslehrer in Seengen, Personen wie der Spittelverwalter Läubli, ein weiterer Läubli (Consumdepotverwalter), Herren namens Traugott Gautschi, Max Bender, Kurt Stalder und immer wieder Posthalter Hauri − mit oder ohne Sohn. Der Posthalter war wohl die präsenteste Figur auf der Grabungsstelle, welcher von einem brennenden Eifer beseelt gewesen sein muss. Oft war er alleine anwesend, so steht im Tagebuch zum 4. Oktober 1923 vermerkt: "Witterung kalt und regnerisch, Hauri arbeitet den ganzen Tag." Was es genau bedeutete, an einem nasskalten Oktobertag in einem immer wieder überfluteten Torf- und Schilfgebiet zu graben, kann man sich lebhaft vorstellen.
Ob solche Entdeckerlust auch die Schüler und Schülerinnen, welche Bosch ebenfalls einsetzte, über alle Widrigkeiten erhaben machte? Immerhin kann man sich gut vorstellen, dass ihr Einsatz auf der Riesi eine willkommene Abwechslung vom schulischen Alltag darstellte. Dies galt bestimmt auch für die Kadetten, welche Bosch auch zuweilen aufbot.
Die Kadetten (I u. II Kl.) müssen nach Funden suchen.
Wenn man sich vorstellt, was heute abginge, wenn man eine Schar 14-jähriger Jungs und Mädchen auf eine archäologische Grabungsstätte schicken würde! Was da alles durch Unachtsamkeit zertrampelt werden kann, oder wie man einen Mitschüler durch ein leichtes Rempeln im Sumpf landen lassen kann, um dies sofort per Video und WhatsApp im Kollegenkreis zu verbreiten, wie man sich mit einer Freundin unbemerkt absetzen kann, weil das archäologische Feuer alsbald erlischt, besonders wenn da ausser vermodertem Holz und verklebten Steinen nichts zu sehen ist, welch Unterfangen ein Toilettengang darstellen würde und ob die Anwesenheit von Mückenschwärmen am schilfigen Seeufer einen negativen Einfluss auf die Arbeitsmoral hätte. Zudem müsste ein Sicherheitsdispositiv erstellt werden, da man sich mit einer Schülergruppe nicht näher als soundso viele Meter vom offenen Wasser entfernt aufhalten dürfte, die Lehrperson ein Brevet als Lebensretter besitzten müsste und nachdem alle Eltern mittels Unterschrift bestätigt hätten, dass ihr Sohn/ihre Tochter 100 m problemlos schwimmend bewältigen kann.
All dies war bestimmt ganz anders zu Boschs Lehrerzeiten, da wusste das Jungvolk sich noch zu benehmen und für Ungebührlichkeiten kriegte man nicht nur vom Lehrer eins hinter die Ohren, sondern zu Hause noch eins drauf. Oder fallen wir da einem Klischee zum Opfer? Wir wissen es nicht, denn Boschs Tagebücher bleiben auch hier sachlich, ganz auf die Ausgrabung fokussiert. Das "Menscheln", das es sicher gab, bleibt der eigenen Vorstellung überlassen (Autor: Hans, Freiwilliger).
Links
Hans Reinerth auf Wikipedia(öffnet in einem neuen Fenster)
Literatur
Rekonstruierte Pfahlbauhäuser
- Pfahlbauhaus Seengen
- Pfahlbausiedlung Wauwilermoos(öffnet in einem neuen Fenster)
- Steinzeithaus Thayngen-Weiher(öffnet in einem neuen Fenster)
- Pfahlbaudorf Gletterens(öffnet in einem neuen Fenster)
- Archäologiepark Laténium(öffnet in einem neuen Fenster)
- Pfahlbaumuseum Unteruhldingen(öffnet in einem neuen Fenster)
- Pfahlbauten im Bally-Park Schönenwerd(öffnet in einem neuen Fenster)