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Kantonale Schutzobjekte

Notkirche von Lupfig - Denkmalschutz für einen Prototypen

Die röm.-kath. Kirche Lupfig wurde 1965/66 als Prototyp eines von der Horta Systembau AG entwickelten Typenbaus errichtet. Sie gilt im Zusammenspiel mit dem 1961 erstellten BBC-Werk und der 1962-66 erbauten Grosssiedlung «In den Wyden» architektonisch und sozialgeschichtlich als wertvoller Zeitzeuge. Der weitgehend im Originalzustand erhaltene Prototyp konnte im Frühling 2020 unter kantonalen Denkmalschutz gestellt werden.

Notkirchen

Immer dann und überall dort, wo geeignete Räume für Gottesdienste in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums fehlten, war die Frage nach Kirchen in Systembauweise gross. Tiefe Kosten und eine kurze Erstellungszeit konnten rasch Abhilfe schaffen. Sobald Geld für eine «richtige» Kirche beisammen war oder kein Bedarf mehr danach bestand, wurden temporäre Kirchengebäude in der Regel abgebrochen, umgenutzt oder in die neu gebaute Kirche integriert. Die oft als «Notkirchen» bezeichneten, temporären Bauten gelten daher als schlecht dokumentiert oder gar nicht mehr fassbar. Umso erfreulicher ist es, dass im Aargau, genauer im Birrfeld, noch ein Zeuge dieses Bautypus steht, und zwar beinahe im Originalzustand.

Lupfig, röm.-kath. Pauluskirche. Markante Satteldachkonstruktion, das hintere Satteldach dient als Glockenturm, Blick von Osten. © Kantonale Denkmalpflege Aargau, Heiko Dobler, 2019.

Heerscharen von katholischen Zuzügern

Lupfig liegt am westlichen Rand des Birrfelds, der einstigen Kornkammer des Aargaus. Die Region erfuhr in der Nachkriegszeit mit der 1957 im Zonenplan ausgeschiedenen Industriezone «Birr» einen eindrücklichen Strukturwandel. Hier nahm u. a. 1961 die Firma BBC ihren Betrieb auf und schuf in ihrem Werk Birr 2'000 Arbeitsplätze. Diesen neuen Arbeitsplätzen stand ein ungenügendes Angebot an Wohnraum gegenüber, so dass BBC die Wohnsiedlung «In den Wyden» in Birr (Charles-Edouard Geisendorf und Robert Winkler, 1962–66) projektierte.

Birr, von Nord-Osten, Wohnsiedlung und Brown Boveri Cie, im rechten Bildvordergrund die Pauluskirche. Com_FC01-5242-008, © ETH Bildarchiv.

Die Zuzüger in die ursprünglich reformierte Region waren grossenteils katholische Gastarbeiter. Trotz der grossen Zahl von über tausend Katholiken fehlte der Kirchgemeinde Brugg das Geld und die Zeit für den Bau einer zweiten Kirche, da die Windischer Kirche im selben Jahr erbaut wurde. So kam es innert kürzester Zeit zum Bau einer Notkirche aus Holz. Sie bot 200 Sitzplätze, eine Sakristei und einen Anbau mit zwei Vereinssälen für 63 und 49 Plätze, samt Garderobe und WC. Sogar eine Glocke mit Läut- und Schlagwerk war im Angebot der Holzbaufirma Horta enthalten. 300'000 Franken kostete die als Provisorium bewilligte Notkirche. Liefertermin war acht Wochen nach Baubewilligung, die Fertigstellung erfolgte innerhalb eines halben Jahres nach Bestellung.

Die Einweihung der Pauluskirche in Lupfig am Auffahrtsnachmittag, 19. Mai 1966. Sie stand damals noch auf grüner Wiese. Aus: Aargauer Volksblatt 1966.

Im Dezember feierten die Gläubigen die Glockenweihe in der Turnhalle Birr, im März war Aufrichte und am 19. Mai 1966 Kirchweihe. Die Pauluskirche stand ursprünglich auf grüner Wiese in Sichtbeziehung zur Wohnsiedlung «In den Wyden» in Birr. Heute ist die Kirche von Wohnbauten umgeben.

Zeugnis von Migration und Diaspora

Rohbau der Pauluskirche Lupfig, 1966. Aus: Aufbau, Wandel und Wirken, 2016, S. 132.

Die in traditionell reformiertem Gebiet erbaute Kirche St. Paulus in Lupfig verdankt ihre Entstehung folglich dem Zuzug von vornehmlich katholischen Gastarbeitern in der von Wirtschaftswachstum geprägten Nachkriegszeit. Der als Notkirche errichtete Sakralbau ist damit ein Zeugnis der Geschichte der Migration und der damit einhergehenden Diaspora.

Ihre wirtschaftliche und technische Bedeutung entfaltet die Kirche St. Paulus als Prototyp eines von der Horta Systembau AG entwickelten Typenbaus. Die Typisierung ist im Baubetrieb der 1960er Jahre ein zeittypisches Phänomen. Im Gegensatz zu Akteuren wie Ernst Göhner hat der Gründer von der Horta Systembau AG, Josef Wernle aus Küttigen (AG), seine Wurzeln aber im Zimmermannshandwerk. Dies merkt man der Kirche St. Paulus mit ihrer Holzkonstruktion an.

Charakteristische Systembau-Architektur

Lupfig, röm.-kath. Pauluskirche, Blick von Südosten. © Kantonale Denkmalpflege Aargau, Heiko Dobler, 2019.

Die Pauluskirche in Lupfig ist durch ihre bis zum Boden herabgeführte steile Satteldachkonstruktion charakterisiert. Bei dem 10-achsigen Bau laufen die als Binder eingesetzten Sparren über den niedrigen Kniestock aus verputzten Betonblöcken hinaus und ruhen auf sichtbaren Sichtbetonfundamenten. Dem Nord-Süd-orientierten Bau ist auf seiner Ostseite die dreieckige Sakristei angelagert, die von einem aus dem Hauptdach hervorwachsenden offenen Satteldach, das als Glockenturm fungiert, überlagert wird.

Die Eingangsfront, welche die Holzkonstruktion des Dachs deutlich ablesen lässt, ist über dem aus dem Bau hervortretenden Eingangsbereich als Fensterwand gestaltet. Die rückwärtige Giebelwand ist holzverschalt und weist drei horizontale Fensterbänder auf. Das den Bau dominierende Dach ist mit Welleternit gedeckt.

Lupfig, röm.-kath. Pauluskirche; rückwärtige, holzverschalte Giebelwand. Blick von Nordosten. © Kantonale Denkmalpflege Aargau.

Der siebenachsige Kirchenraum wird in seiner Wirkung wesentlich von der Satteldachkonstruktion bestimmt. Die sakrale Stimmung des Kirchenraums wird geformt durch einen Terrazzoboden, schlichte Holzbänke, niedrige Seitenwände (bzw. Kniestockwände), ein feines Lichtband zwischen Wand und Dach, das Dach mit seinen vom Innenraum aus sichtbaren Sparren, eine mit vertikal laufenden Nut- und Federbrettern gestaltete Altarrückwand, und die einseitige Belichtung des Altarbereichs über ein Plexiglasfeld.

Lupfig, röm.-kath. Pauluskirche, Blick in den Innenraum Richtung Westen. © Kantonale Denkmalpflege Aargau, Heiko Dobler, 2019.

Die Qualität und Dauerhaftigkeit dieser Konstruktion zeigt sich nicht nur bei St. Paulus, sondern auch bei der typengleichen Pfarrkirche St. Theresia vom Kinde Jesu in Seon. Ihre baukünstlerische Bedeutung entfaltet die Pauluskirche in Lupfig nicht nur als Prototyp eines Typenbaus, sondern mit ihrem zeltförmig heruntergezogenen Satteldach auch als Vertreter der Zelt-Symbolik. Die Zelt-Symbolik prägte den Kirchenbau der 1960er Jahre wie auch die als Montagekirchen ausgebildeten Notkirchen von Hanns Brütsch, z. B. die 1967 geweihte Heiliggeistkirche in Belp (BE), zeigen.

Ein typisches Phänomen der Nachkriegszeit

Seon, röm.-kath. Pfarrkirche St. Theresia vom Kinde Jesu. © Kantonale Denkmalpflege Aargau.

Notkirchen sind ein typisches Phänomen des Kirchenbaus der Nachkriegszeit. Im Kanton Aargau wurde keine Notkirche des von Brütsch entwickelten Typus erbaut, jedoch zwei Typen der im Aargau beheimateten Horta Systembau AG, nämlich die 1966 geweihte Kirche St. Paulus in Lupfig und die ebenfalls 1966 geweihte Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu in Seon. Die Kirche St. Paulus ist nicht nur der Prototyp dieser Montagekirche, sondern hat im Vergleich zur Seoner Kirche, welche Erneuerungen und Anbauten erfuhr, auch einen sehr grossen Zeugniswert, da sich hier noch mehr bauzeitliche Substanz erhalten hat.

Seon, röm.-kath. Pfarrkirche St. Theresia vom Kinde Jesu. Zeltcharakter des Innenraums. © Kantonale Denkmalpflege Aargau.

Unterschutzstellung und Ausblick

Die röm.-kath. Pfarrkirche Lupfig bildet einen wichtigen Bestandteil der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung des Birrfelds, das in der Nachkriegszeit einen starken Strukturwandel im Industriekanton Aargau erlebte. Darüber hinaus ist sie ein wichtiges Zeugnis einer historischen und baukünstlerischen Situation und eine der wenigen noch bestehenden sogenannten Notkirchen. Der Bau wurde bewusst als Provisorium geplant, der demontiert und an einem anderen Ort wiedererrichtet werden könnte. In Lupfig ist er als eine der wenigen in der Nachkriegszeit erbauten Notkirchen noch erhalten. In ihr zeigt sich die Auseinandersetzung mit dem Thema der Typisierung und Standardisierung im Kirchenbau. Aber auch das im 20. Jahrhundert immer wieder auftauchende Armutsideal wird in der St. Pauluskirche in Lupfig thematisiert. Es handelt sich um ein sehr gut erhaltenes Bauwerk dieses selten gewordenen Bautyps, das im Frühjahr 2020 unter kantonalen Denkmalschutz gestellt wurde.

2019 schrieb die Kirchgemeindeversammlung einen Architekturwettbewerb für ein neues Kirchenzentrum aus. Daran beteiligte sich die kirchliche Wohnbaugenossenschaft «Faires Wohnen» der röm.-kath. Landeskirche Aargau. Übergeordnetes Projektziel war die Erarbeitung eines Gesamtensembles aus kirchlichen, öffentlichen und privaten Nutzungen mit attraktiven Aussenräumen, unter angemessener Integration des bestehenden Sakralbaus.

Das kürzlich erstrangierte Siegerprojekt von Meier Leder Architekten AG in Baden zeichnet sich aus durch einen gewagten wie legitimen Entwurfsansatz, bei dem Formensprache wie Konstruktion der Pauluskirche auch für die Ergänzungsbauten Pate steht. Bei einem für die Vorfabrikation und Wiederaufbau geplanten Gebäude wie der Pauluskirche ein konsequentes Vorgehen, welches letztlich die Bedeutung und Wahrnehmung der Kirche im grossmassstäblichen Quartier stärken wird.