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Die Italiener sind da!

Dieser Beitrag wurde im Kontext des Fokusthemas 2024 "Anders zusammen" erarbeitet. BBC sah sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wider Erwarten mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert. Die Engpässe in den Fabriken sollten mit italienischen Arbeitern entschärft werden. Diese Arbeitskräfte wurden im Brisgi in einem eigens erbauten Barackendorf untergebracht.

Einleitung

BBC wurde 1891 in Baden gegründet. Bereits zwischen 1896 und 1898 baute sie mit dem sogenannten Dynamomheim die ersten Arbeiterhäuser auf dem Wettinger Feld, um der herrschenden Wohnungsnot entgegenzuwirken. Von 1916 bis 1918 entstand die zweite Etappe des Dynamoheims, und das Dynamoheim 3 entstand in den Jahren 1948/49. Dieser Haustyp (viergeschossige Häuser im offenen Zeilenbau) wurde auch bei Angestelltenhäusern in Baden und später in Gebenstorf ganz ähnlich verwendet. Später wurden weitere Arbeitersiedlungen erstellt, beispielsweise in Birr.

Ein Ausschnitt aus der Hauszeitschrift der ehemaligen BBC (heute ABB) mit dem Titel "Die Italiener sind da!".
© Historisches Archiv ABB / In einem längeren Artikel in der BBC-Hauszeitung wird die Anwerbung von 300 Italienern angekündigt.
Eine Schwarzweissfotografie einer Kiesstrasse zwischen den Holzbaracken. Ein kleines Auto - vermutlich ein Cinquecento - steht in der Mitte und eine Person bückt sich zum Fenster.
© Historisches Archiv ABB / Szene im Barackendorf, vermutlich an einem Sonntag (Mann, angelehnt an Auto, trägt weisses Hemd und Krawatte). Idylle oder Ghetto?
Aus der Vogelperspektive sieht man das Barackendorf Brisgi im Sommer 1964. Das Bild selber ist schwarzweiss.
© ETH e-pics / Brisgi aus der Vogelperspektive, Sommer 1964.

Die Italiener sind da!

Bei BBC in Baden nahmen die Bestellungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprunghaft zu. In der Schweiz herrschte Mangel an Arbeitskräften, und die Engpässe in den Fabriken sollten mit italienischen Arbeitern entschärft werden. Es wäre einfacher gewesen, Gastarbeiter in Deutschland zu rekrutieren (kürzere Wege, Sprache). Die Besatzungsbehörde verweigerte jedoch das Vorhaben, weil arbeitsfähige Männer zum Wiederaufbau Deutschlands verpflichtet waren. Ein Agent der BBC warb in Mailand gut ausgebildete Leute an und überprüfte sie auf ihre sittliche und politische Zuverlässigkeit.

Im November 1946 war den Gewerkschaften und der Arbeiterkommission die Anwerbung von 300 italienischen Arbeitern angekündigt worden, und die BBC-Hauszeitung vom Januar 1947 titelte auf der Frontseite "Die Italiener sind da!" (Bild 1). Die Firma bemühte sich, in der gleichen Ausgabe der Hauszeitung allfällige Bedenken von Belegschaft und Bevölkerung zu zerstreuen. Insbesondere die herrschende Wohnungsnot sowie Lohnfragen gaben zu Befürchtungen Anlass. BBC wurde vom Kanton verpflichtet, für die Unterbringung der Arbeiter zu sorgen und erstellte Wohnbaracken im Brisgi im Kappelerhof.

Im Januar 1947 kamen die ersten Italiener an: 120 Männer wurden im Kappelerhof untergebracht, 50 Frauen in Reiden. Bereits im August 1948 waren über 700 Angehörige der Belegschaft Ausländer, davon 525 Italiener. Bild 2 zeigt eine Szene im Barackendorf: Idylle oder Ghetto? Der Zustrom hielt in den nächsten Jahren unvermindert an. Die ausländische Wohnbevölkerung hatte sich im Bezirk Baden zwischen 1940 und 1970 von 2000 auf über 20000 mehr als verzehnfacht.

BBC baute weitere Baracken im Brisgi und erwarb sechs sich im Bau befindliche Wohnblöcke für 350 Arbeiter in Neuenhof. Diese Gastarbeitersiedlung wurde ins Brisgi verlegt, nachdem dort zwei neunstöckige Mehrfamilienhäuser und später ein zwanzigstöckiges Hochhaus gebaut worden waren. Bild 3 zeigt die Situation im Brisgi im Sommer 1964 (am unteren Bildrand die beiden Mehrfamilienhäuser; darüber folgend die Baracken; rechts der Bildmitte das im Bau befindliche Hochhaus). Der Zuwachs der Gastarbeiter verflachte sich nicht zuletzt unter politischem Druck in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. Auf dem Höhepunkt im Jahr 1967 wohnten gegen 2000 Menschen im Brisgi. Die BBC-Hauszeitung zeigte Bilder von einer neuentstandenen Idylle, wohl als Beitrag zur Entschärfung der beginnenden Debatten um Ausländerfragen und Überfremdungsängste.

Kein "rücksichtsvolles und inklusives Miteinander"

Im September 1947 richtete die Betriebsleitung in der Hauszeitung das Wort direkt an die neuen Arbeitskräfte. Auf Italienisch gab sie ihnen den Tarif bekannt. Zwar hätten sie als neue Steuerzahler Anrecht auf saubere und freundliche Unterkünfte, doch angesichts der Bestimmungen der Fremdenpolizei und der Wohnungsnot in der Schweiz sei es ihnen untersagt, bei Privatpersonen oder als reguläre Mieter eine Bleibe zu suchen. Stattdessen sollten sie dankbar sein für die eigens für sie errichteten, komfortablen Baracken. Mit der zunehmenden Beteiligung ausländischer Arbeitskräfte am Betriebsleben der BBC änderte sich aber der Tonfall in der Hauszeitung. In den 1960er-Jahren standen weniger Anweisungen als Porträts einzelner Migranten im Vordergrund. Gleichzeitig bemühte sich die Hauszeitung darum, die Gastarbeitersiedlungen als intakte Dörfer mit gesittetem Sozialleben darzustellen und dem Negativbild eines Ghettos entgegenzuwirken.

Das Brisgi entwickelte sich zu einem eigenen Dorf mit umfangreicher Infrastruktur und eigenem Sozialleben, war aber gleichzeitig isoliert von der Stadt und ihrer Bevölkerung. Zu Beginn der Barackensiedlung hatte man in der Kantine offenbar noch versucht, den Italienern Schweizer Essen vorzusetzen. Das ging natürlich nicht, und man musste jemanden finden, der italienisch kochen konnte. Mit der Zeit erlangte die Kantine einen Ruf weit über die Siedlung hinaus, sie war das erste italienische Restaurant in Baden. Mit echtem Espresso!

Die beiden 1964 gebauten Häuser boten 600 Einzelmietern Unterschlupf, das etwas später errichtete Hochhaus 800 Arbeitern. Die Dreieinhalb- und Viereinhalb-Zimmer-Wohnungen waren jeweils mit zehn bis zwölf Männern belegt. Im Gegensatz zu den Holzbaracken war aber hier das Zimmer doppelt so teuer. Die Familienwohnungen entsprachen aber nicht den Bedürfnissen der Arbeiter. Viele hatten sich damit abgefunden, dass ihre Familie in Italien wohnt und sie für einige Jahre in der Schweiz arbeiteten. An einem Familiennachzug waren sie nicht interessiert.

Das "anders zusammen" zwischen der in- und ausländischen Wohnbevölkerung entsprach in keiner Weise dem heute krampfhaft angestrebten "rücksichtsvollen und inklusiven Miteinander". Vielmehr stellte die Existenz des Brisgi eine Art Win-win-Situation für alle Beteiligten dar: Für BBC war mit den ausländischen Arbeitskräften der Betrieb sichergestellt und für die Italiener gab es bezahlte Arbeit. Dass sie bei einsetzender Rezession (wie 1959) entlassen wurden, gehörte zum Modell.

Zukunft?

Die Siedlung im Brisgi entsprach nicht einem bürgerlichen Familienideal, sondern entsprang der Notwendigkeit, genügend Wohnraum für die einwandernden Gastarbeiter bereitzustellen. Der freie Wohnungsmarkt war dazu nicht in der Lage.

Die letzte Brisgi-Baracke wurde erst 1990 abgerissen. Auf dem 6,5 Hektaren grossen Areal an der Limmat soll ab 2027 ein Projekt für 220 Genossenschaftswohnungen realisiert werden. Vielleicht klappts dann besser mit dem "rücksichtsvollen und inklusiven Miteinander".