INV-NIW911 Heiligkreuz-Kapelle, 1957-1958 (Dossier (Bauinventar))

Archive plan context


Ansichtsbild:
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Identifikation

Signatur:INV-NIW911
Signatur Archivplan:NIW911
Titel:Heiligkreuz-Kapelle
Bezirk:Bremgarten
Gemeinde:Niederwil (AG)
Ortsteil / Weiler / Flurname:Nesselnbach
Adresse:Kapellenweg 10
Versicherungs-Nr.:129
Parzellen-Nr.:95
Koordinate E:2664166
Koordinate N:1248864

Chronologie

Entstehungszeitraum:1957 - 1958
Grundlage Datierung:Literatur

Typologie

Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.):Einzelobjekt
Nutzung (Stufe 1):Sakrale Bauten und Anlagen
Nutzungstyp (Stufe 2):Kapelle

Dokumentation

Autorschaft:Hans U. Gübelin (1925–2017)
Würdigung:1957/58 nach Plänen des Luzerner Architekten Hans U. Gübelin erbaute Heiligkreuz-Kapelle im Stil der Nachkriegsmoderne. Mit ihrer expressiven Dachgestaltung greift die Kapelle die auf das Alte Testament zurückgehende Zeltsymbolik auf, die insbesondere in der Kirchenarchitektur der 1950/60er-Jahre präsent war. Die dekorativ verlegten Ziegelsteine der Fassaden zeigen leichte Anklänge an den Backsteinexpressionismus. Die Ausstattung wurde mit Bezug auf die Architektur konzipiert und von namhaften Künstlern angefertigt. In Kombination mit der sorgfältigen Umgebungsgestaltung besitzt die Kapelle einen hohen Situationswert am westlichen Siedlungsrand von Nesselnbach. Aufgrund ihrer architektonischen und künstlerischen Qualität sowie ihres guten Erhaltungszustandes ist die Kapelle nicht nur lokal, sondern auch im gesamtkantonalen Vergleich ein bemerkenswertes Bauwerk.
Bau- und Nutzungsgeschichte:Die heutige Kapelle besass einen Vorgängerbau, der um 1875 an der gleichen Stelle erbaut worden war. Als sich in den 1950er-Jahren in Nesselnbach die Notwendigkeit abzeichnete, die bestehende Kapelle zu sanieren und zu vergrössern, sprachen sich die beiden einflussreichen Nesselnbacher Bürger, der Bankdirektor Kurt Gratwohl und der damalige Prälat Josef Meier, für einen Neubau aus. Gratwohl wollte zum Andenken an seine früh verstorbene Mutter in seiner Heimatgemeinde eine neue Kapelle stiften. Zu diesem Zweck gründete er im Februar 1957 die Elisabethenstiftung Nesselnbach; im Mai konnte das Grundstück angekauft werden. Anfangs 1958 legte die Stiftungskommission der Einwohnerschaft von Nesselnbach die Entwürfe des Luzerner Architekten Hans U. Gübelin (1925–2017) vor [1]. Gübelin gehört zu der Luzerner Uhrmacher- und Juwelierfamilie, hat an der ETH Zürich Architektur studiert und mit dem renommierten Architekten Karl Egender zusammengearbeitet, der ein Freund der Familie war [2]. Gleichzeitig mit der Kapelle in Nesselnbach gestaltete Gübelin für den von Werner Gantenbein entworfenen Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Brüssel 1958 die Sektion der Uhrenindustrie [3]. Gübelins Entwurf für die Kapelle in expressiv-moderner Formensprache fand sowohl bei der Bevölkerung als auch beim zuständigen Bischof Zustimmung. Mit den Bauarbeiten wurde im Frühling 1958 unter der Leitung von Gübelin und dem Baumeister Ernst Franzetti begonnen. An der Ausstattung beteiligte sich neben dem Luzerner Grafiker Hans Blättler [4] und der Künstlerin Rosemarie Weiss auch der namhafte Bildhauer Emilio Stanzani (1906–1977) [5]. Zusammen mit Blättler und Stanzani gestaltete Gübelin auch die Sektion Uhrenindustrie, Messtechnik und Automatik an der Expo 1964 in Lausanne [6]. Am 24. August 1958 wurde die Kapelle geweiht.
Ende der 1990er-Jahre fand eine Restaurierung der Kapelle statt [7]. Wahrscheinlich wurde in diesem Zusammenhang auch das Geländer bei der vorgelagerten Treppe ergänzt, wo es zur Bauzeit keines hatte.
Beschreibung:Die Kapelle befindet sich auf einer kleinen Anhöhe am südwestlichen Dorfrand von Nesselnbach. Der polygonale Baukörper besteht aus rotem Sichtbacksteinmauerwerk und erhebt sich über einer erhöhten Betonplatte in Form eines Drachenvierecks. Das expressiv geknickte und auskragende Dach, das mit dunklem Schiefer gedeckt ist, nimmt den Rhombus der Betonplatte auf und ist an zwei Ecken bis zu dieser herabgezogen. Mit diesen stark in Erscheinung tretenden Dachflächen greift die Kapelle die Zeltsymbolik auf, die auf das Alte Testament zurückgeht und insbesondere in der Kirchenarchitektur der 1950/60er-Jahre präsent war. Das Volk Mose bewohnte auf seiner Wanderung durch die Wüste zum Gelobten Land Zelte, wobei auch die Bundeslade mit den Gesetzestafeln in einem Zelt aufbewahrt wurde. Das Zelt symbolisiert somit das Vorläufige und erinnert an die Vergänglichkeit irdischer Kirchenbauten gegenüber dem ewigen himmlischen Jerusalem [8].
Im Bereich des Eingangs an der Südfassade und der Sakristei in der nördlichen Spitze zeichnen sich die Wandflächen durch die roten Sichtbacksteine aus, die dekorativ in einem abgewandelten Märkischen Verband verlegt sind. Zwischen jeweils zwei Läufern sind die Binder leicht vorstehend; jede zweite Schicht besteht ausschliesslich aus Läufern. An den acht Gebäudekanten überkreuzen sich die Läufer und kragen leicht vor. Diese Fassadenmodellierung zeigt Anklänge an den Backsteinexpressionismus. Im Chorbereich bestehen die Wände ganz aus Glas und zeigen abstrakte Glasgemälde von 1958 des Luzerner Grafikers Hans Blättler, die im Atelier von Aubert & Pitteloud in Lausanne ausgeführt wurden.
Der Innenraum ist ganz auf den Altar gerichtet, indem die Seitenwände auf diesen zulaufen und die Raumhöhe zunimmt. Verstärkt wird diese Wirkung durch die Linienführung und Farbflächen der Glasmalerei sowie durch die Belichtung des Raumes. Die Wand hinter dem Altar ist weiss gestrichen und hebt sich dadurch von den holzgetäferten Dachschrägen und dem Sichtbackstein an den Wänden im Laienbereich ab. Dahinter befindet sich die Sakristei. Für den Boden fand im Laienbereich Klinker und im Chor Kalkstein Verwendung. Das Kruzifix aus Bronze sowie der Altar aus Muschelkalk sind Werke des Zürcher Bildhauers Emilio Stanzani (1906–1977). Der Tabernakel mit einem Fisch als Christussymbol stammt von der Künstlerin Rosmarie Weiss aus Zürich. Bemerkenswert sind auch die äussern Türgriffe des Eingangs, die in Gestalt eines Chi-Rho-Zeichens und einer Taube gestaltet sind [9].
Neben der Kapelle stehen auf der Ostseite ein grosses Kreuz und ein Glockenträger, beide aus Sichtbeton. Der Grünraum um die Kapelle ist passend zur Architektur gestaltet, indem ebenfalls geometrische Formen verwendet wurden. So weist der mit Steinplatten belegte Vorplatz die Form eines asymmetrischen Trapezes auf, in das ein dreieckiges Blumenfeld eingelassen ist. An die Westecke der Sockelplatte grenzt zudem ein trapezförmiger Brunnentrog an. Gegen Nordosten ist die Parzelle von verschiedenen Bäumen gerahmt.
Die auf geometrischen Formen basierende Gestaltung der Heiligkreuz-Kapelle zeigt insbesondere hinsichtlich der Verschränkung der Dachform mit der Sockelplatte eine höchst innovative und originelle Lösung und macht das Bauwerk zu einem charakteristischen Sakralbau der Nachkriegsmoderne. Mit dem 1957/58 angefertigten Entwurf der Kapelle gesellt sich Gübelin zu den avantgardistischen Architekten seiner Zeit, wie Hermann Baur oder Hannes A. Brütsch, die ausgehend von Le Corbusiers Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp von 1955 schon vor dem zweiten Vatikanum mit neuen Formen und Grundrissvariationen im Kirchenbau experimentierten. Die Heiligkreuz-Kapelle in Nesselnbach ist deshalb auch im gesamtkantonalen Vergleich ein bemerkenswertes Bauwerk [10].
Erwähnung in anderen Inventaren:- Inventar Kulturgüterschutz, B (regionale Bedeutung).
Anmerkungen:[1] Kath. Kirchgemeinde Niederwil (Hg.), 300 Jahre Pfarrkirche St. Martin Niederwil. 1691–1991, Niederwil 1991, S. 40–42.
[2] Zu Hans U. Gübelin siehe Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 1: Hans U. Gübelin. Bauten und Projekte 1950–1991. Hannes Inneichen (Hg.) Luzern 2000; Architekturbibliothek. Schweizer Architektur 1920–heute "Hans U. Gübelin" (https://www.architekturbibliothek.ch/architekt/guebelin-hans-u/, konsultiert am 15.11.2024).
[3] Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 1: Hans U. Gübelin. Bauten und Projekte 1950–1991. Hannes Inneichen (Hg.) Luzern 2000, S. 32–33.
[4] Hans Blättler entwarf beispielsweise auch die Fenster der 1969 umgestalteten Krypta der Pfarrkirche St. Jakob in Escholzmatt (Heinz Horat, Die Kunstdenkmäler des Kantons Luzern, Neue Ausgabe I: Das Amt Entlebuch, Bern 1987, S. 105.)
[5] Zu Emilio Stanzani siehe Irene Müller, "Emilio Stanzani". In: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, 2018, erstmals publiziert 1998 (https://recherche.sik-isea.ch/sik:person-4023430/in/sikart, konsultiert am 15.11.2024)
[6] Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 1: Hans U. Gübelin. Bauten und Projekte 1950–1991. Hannes Inneichen (Hg.) Luzern 2000, S. 35.
[7] Heiligkreuz-Kapelle Broschüre zum Spendenaufruf 1998.
[8] Zur Zeltsymbolik im Kirchenbau der Nachkriegsmoderne siehe Fabrizio Brentini, Bauen für die Kirche. Katholischer Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, Luzern 1994, S. 111–114; Anke Köth, Alltag und Atmosphäre. Zum Kirchenbau nach 1950. In: Johannes Stückelberger (Hg.), Moderner Kirchenbau in der Schweiz. Zürich 2022, S. 10–24, hier S. 10.
[9] Hans Gübelin, Dorfkapelle in Nesselnbach, Aargau. In: Das Werk, Nr. 47 (1960), S. 208–209.
[10] Im kantonalen Quervergleich ist beispielsweise die Muttergotteskapelle von 1961/62 in Oberniesenberg (Gemeinde Kallern) nach Plänen von Hanns A. Brütsch zu nennen (Kantonales Denkmalschutzobjekt KAL002).
Literatur:- Hans Gübelin, Dorfkapelle in Nesselnbach, Aargau. In: Das Werk, Nr. 47 (1960), S. 208–209.
- Peter Felder, Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau. Bd. 4: Der Bezirk Bremgarten, Basel 1976, S. 303.
- Hannes Ineichen, Tomaso Zanoni, Luzerner Architekten. Architektur und Städtebau im Kanton Luzern 1920–1960, Zürich, Bern 1985, S. 148.
- Kath. Kirchgemeinde Niederwil (Hg.), 300 Jahre Pfarrkirche St. Martin Niederwil. 1691–1991, Niederwil 1991, S. 40–42.
- Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 1: Hans U. Gübelin. Bauten und Projekte 1950–1991. Hannes Inneichen (Hg.) Luzern 2000.
- Jürgen Heinze, Heilig Kreuz-Kapelle, Niederwil-Nesselnbach. Römisch-Katholische Kirche im Aargau, Aargauer Kapellen (https://ag.kirchensteuern-sei-dank.ch/aargauerkapellen/kapellen/heilig-kreuz-kapelle-niederwil-nesselnbach, konsultiert am 15.11.2024)
 

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