Avantgardistisches Kleinod in Nesselnbach
2024 hat die Kantonale Denkmalpflege das Bauinventar für die Gemeinde Niederwil überarbeitet und die kommunal schutzwürdigen Gebäude und Kulturobjekte dokumentiert. Unter den Inventarobjekten findet sich neben bäuerlichen Bauten, die für eine ländliche Gemeinde charakteristisch sind, auch ein unerwartet avantgardistischer Sakralbau von hoher architekturhistorischer und baukünstlerischer Bedeutung: die 1957/58 errichtete Heilig-Kreuz-Kapelle des Architekten Hans U. Gübelin in Nesselnbach.
Wenn von Sakralbauten im Freiämter Dorf Nesselnbach, das seit 1901 zur Gemeinde Niederwil gehört, die Rede ist, denkt man wohl zuerst an das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal, das pittoresk in einer Schlaufe der Reuss gelegen ist und seit 1894 als Pflegezentrum genutzt wird. Ganz am anderen Rand von Nesselnbach, gegen Westen am Waldrand, befindet sich jedoch mit der 1957/58 errichteten Heilig-Kreuz-Kapelle von Hans U. Gübelin eine weitere sakralarchitektonische Sehenswürdigkeit, deren avantgardistische Gestaltung für ein beschauliches Dorf überraschen mag.
Die heutige Kapelle besass einen Vorgängerbau aus dem 19. Jahrhundert. Als sich in den 1950er-Jahren die Notwendigkeit einer Sanierung und Vergrösserung abzeichnete, entschied man sich letztlich für einen Neubau. Zu diesem Zweck wurde 1957 die Elisabethenstiftung Nesselnbach gegründet, die den Luzerner Architekten Hans U. Gübelin (1925–2017) mit den Entwürfen beauftragte. Gübelin gehört zu der Luzerner Uhrmacher- und Juwelierfamilie, hat an der ETH Zürich Architektur studiert und mit dem renommierten Architekten Karl Egender zusammengearbeitet, der ein Freund der Familie war. Gleichzeitig mit der Kapelle in Nesselnbach gestaltete Gübelin für den von Werner Gantenbein entworfenen Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Brüssel 1958 die Sektion der Uhrenindustrie. Gübelins Entwurf für die Nesselnbacher Kapelle in expressiv-moderner Formensprache fand sowohl bei der Bevölkerung als auch beim zuständigen Bischof Zustimmung. Dazu schrieb Gübelin in seinem Artikel über die Kapelle in der Zeitschrift "Das Werk" von 1960: "Die Bewohner, einfache Bauern und Handwerker, stehen aufgeschlossen den Problemen des Lebens gegenüber und sind frei von Vorurteilen." So begannen denn im Frühling 1958 die Bauarbeiten, und am 24. August 1958 erfolgte die Weihe.
Die Kapelle besitzt einen polygonalen Baukörper aus rotem Sichtbacksteinmauerwerk und erhebt sich über einer Betonplatte in Form eines Drachenvierecks. Das spitz auskragende Dach ist mit dunklem Schiefer gedeckt und stellt eine Kombination aus Sattel- und Grabendach dar. Es nimmt den Rhombus der Betonplatte auf und ist an zwei Ecken bis zu dieser herabgezogen. Mit den stark in Erscheinung tretenden Dachflächen greift die Kapelle die Zeltsymbolik auf, die auf das Alte Testament zurückgeht und insbesondere in der Kirchenarchitektur der 1950/60er-Jahre präsent war. Das Volk Mose bewohnte auf seiner Wanderung durch die Wüste zum Gelobten Land Zelte, wobei auch die Bundeslade mit den Gesetzestafeln in einem Zelt aufbewahrt wurde. Das Zelt symbolisiert somit das Vorläufige und erinnert an die Vergänglichkeit irdischer Kirchenbauten gegenüber dem ewigen himmlischen Jerusalem.
Die Wandflächen der Heilig-Kreuz-Kapelle zeichnen sich durch die roten Sichtbacksteine aus, die unterschiedlich verlegt sind und teils leicht aus der Mauerflucht vorstehen. Dadurch ergibt sich eine dekorative Fassadenmodellierung, die Anklänge an den Backsteinexpressionismus zeigt. Im Bereich um den Altar bestehen die Wände aus grossflächigen Fenstern mit abstrakten Glasgemälden des Luzerner Grafikers Hans Blättler, die im Atelier von Aubert & Pitteloud in Lausanne ausgeführt wurden. Neben der Kapelle stehen auf der Ostseite ein grosses Kreuz und ein Glockenträger, beide aus Sichtbeton.
Der Innenraum ist ganz auf den Altar ausgerichtet, indem die Seitenwände auf diesen zulaufen und die Raumhöhe zunimmt. Hinter dem Altar befindet sich geschickt angeordnet die Sakristei. Die Ausstattung wurde mit Bezug auf die Architektur konzipiert und von namhaften Künstlern angefertigt. So stammt der Tabernakel mit einem Fisch als Christussymbol von der Künstlerin Rosmarie Weiss aus Zürich und das Kruzifix aus Bronze sowie der Altar aus Muschelkalk vom Zürcher Bildhauer Emilio Stanzani (1906–1977). Mit Stanzani und Blättler arbeitete Gübelin später nochmals zusammen, beispielsweise für die Gestaltung der Sektion Uhrenindustrie, Messtechnik und Automatik an der Expo 1964 in Lausanne.
Die auf geometrischen Formen basierende Gestaltung der Heilig-Kreuz-Kapelle zeigt insbesondere hinsichtlich der Verschränkung der Dachform mit der Sockelplatte eine höchst innovative und originelle Lösung und macht das Bauwerk zu einem charakteristischen Sakralbau der Nachkriegsmoderne. Gübelin gesellt sich damit zu den avantgardistischen Architekten seiner Zeit, wie Hermann Baur oder Hannes A. Brütsch, die ausgehend von Le Corbusiers Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp von 1955 schon vor dem Zweiten Vatikanum mit neuen Formen und Grundrissvariationen im Kirchenbau experimentierten. Aufgrund ihrer architektonischen und künstlerischen Qualität sowie ihres guten Erhaltungszustandes ist die Kapelle nicht nur lokal, sondern auch im gesamtkantonalen Vergleich ein bemerkenswertes Bauwerk. (Vanessa Vogler)