Reussgasse 10 – ein Altstadthaus gibt seine Geschichte preis
Das Altstadthaus an der Reussgasse 10 in Bremgarten wurde kürzlich bauarchäologisch untersucht. Sein Besitzer Alex Hürlimann restauriert das historische Gebäude mit viel Eigenleistung und grosser Rücksicht auf die historische Bausubstanz. Unterstützt wird er dabei von spezialisierten Fachleuten. Der Eigentümer hat 2020 die kantonale Unterschutzstellung der Liegenschaft beantragt, die im vergangenen Dezember vollzogen wurde.
Das Altstadthaus an der Reussgasse 10 ist auf mehreren historischen Abbildungen der Stadt Bremgarten zu erkennen, so auch auf einer Stadtansicht von Bremgarten von Westen. Die kolorierte Federzeichnung aus der Eidgenössischen Chronik von Werner Schodoler von 1514–1532 zeigt das Haus mit westlicher Fachwerkwand, in der zweiten Häuserzeile mit der Reuss als natürlicher Stadtgrenze, die zahlreiche Mühlenräder säumen. Die Unterstadt ist ein Stadtteil von Bremgarten, der in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückreicht und in dessen Herzen die Pfarrkirche, die Muttergottes- und die Annakapelle, das Klarakloster, die Pfrundhäuser und die übrigen geistlichen Bauten der Stadt liegen. Das Altstadthaus Reussgasse 10 befindet sich an einer für Bremgarten ortsbaulich wichtigen Lage im Kern der Unterstadt und in der Sichtweite zur Pfarrkirche. Als westlicher Kopfbau einer Häuserzeile gefolgt von einer platzartigen Baulücke und freiem Blick auf die Reuss ist es topographisch prägend für die Reussgasse.
Spätmittelalterlicher Bohlenständerbau nach 1433
Lange vermutete man, das Haus stamme von 1548. Hinweis darauf ist das Südzimmer im 1. Obergeschoss mit kassettierter Holzdecke, Sitznischen am Fenster und spätgotischem Reihenfenster. Dessen Mitte ziert eine tordierte, kannelierte Säule mit Würfelkapitel, das mit der Jahreszahl 1548 und einem Steinmetzzeichen versehen ist. Bei der dendrochronologischen Holzaltersbestimmung, die das Dendrolabor Zürich durchführte, wurde jedoch klar, dass der Kernbau mittelalterlich ist. Die Deckenbalken, die das südliche Vorderhaus überspannen, wurden beprobt und dabei das Fälldatum der Hölzer im Winter 1432/33 festgestellt. Somit kann das Gebäude frühestens 1433 gebaut worden sein – später ist zwar möglich, doch wurde früher das Holz in der Regel "grün" verbaut, da es leichter zu verarbeiten war und sich die Konstruktion beim Austrocknen des Holzes noch ineinander verspannte – ein willkommener Effekt. 1434 brannte es in der Unterstadt von Bremgarten. Die Tatsache, dass die Balken ein Jahr davor gefällt wurden, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich um einen der ersten Neubauten nach dem Unterstadtbrand handelt, für welchen in diesem Fall tatsächlich einjähriges, gelagertes Holz verwendet wurde. Das spätmittelalterliche Haus an der Reussgasse 10 bestand ganz aus Holz. Senkrechte Ständer wurden auf liegende Schwellen gesetzt. Die Öffnungen in diesem hölzernen Rahmenwerk wurden wiederum mit Hölzern geschlossen. In der Schweiz geschah dies fast überall mit liegenden Bohlen, die in die senkrechten Ständer eingenutet wurden (Bohlen-Ständerbau).
Spätgotisches Steingebäude von 1548
Spätestens 1548 wurde der hölzerne Bohlenständerbau durch das heutige Steingebäude ersetzt. Der ostseitige Versatz zwischen Vorder- und Hinterhaus deutet darauf hin, dass 1548 ein bestehender Bau in den Neubau integriert wurde. Damals entstand ein dreigeschossiger Bau mit zweiraumtiefem Vorder- und einraumtiefem Hinterhaus, die aus einer Bauphase stammen. Eine Dachlinie mit Ziegeln in der westlichen Aussenwand deutet darauf hin, dass das spätgotische Steingebäude zu Beginn nur dreigeschossig war. Das sehr unregelmässige Mischmauerwerk weist an der Westfassade brandgeröteten Mörtel und abgeplatzte Mauersteine auf, die von einem Brand – im 17. oder 18. Jahrhundert? – zeugen. Womöglich betrifft dies ein an die Liegenschaft angebauter Holzverschlag, der auf älteren Abbildungen erkennbar ist. Vom 17.-19. Jh. wurde das Gebäude wegen statischen Problemen mehrfach renoviert und umgebaut.
Bestehender Bau
Heute sehen wir ein längsrechteckiges Gebäude mit den Grundrissmassen 17,3 x 5,8 Meter, das mit der südlichen Schmalseite zur Reussgasse ausgerichtet ist. Seine Westseite grenzt an eine Baulücke an, wo die Reussgasse eine rund 7 Meter breite Stichgasse bildet, die in den Kornhausplatz mündet. Es gibt weder schriftliche noch archäologische Hinweise, dass diese Stichgasse je überbaut gewesen wäre.
Der heutige Bau umfasst vier Stockwerke, eine zweigeschossige Unterkellerung, einen eingeschossigen Dachstuhl und ist mit einem Walmdach bedeckt, wobei die westliche Dachseite über eine Aufzugslukarne verfügt. Die Nordwestecke ist mit einem mächtigen Stützpfeiler verstärkt. An der Südfassade befinden sich im 1. Obergeschoss spätgotische Reihenfenster, deren Rahmen an den Kanten mit Fasen verziert sind. An derselben Fassade finden sich bei den Fenstern in den Obergeschossen auch Fragmente einer Dekormalerei mit gemalten Eckquadern und Streifbandfassungen.
Beeindruckende Ausstattung
Im Innern ist die Ausstattung des spätgotischen Kernbaus relativ gut erhalten geblieben. Hervorzuheben ist insbesondere die Bürgerstube im 1. Obergeschoss im gassenseitigen Südraum, die durch über Eck liegende Stichbogenfenster belichtet wird. Gassenseitig ist ein vierteiliges Reihenfenster mit Doppelbogen eingelassen, das in der Mitte eine Fenstersäule aufweist, deren Schaft mit tordierten Kanneluren versehen ist und die auf dem oberen Schild die Jahreszahl 1548 und ein Steinmetzzeichen trägt.
Alle Fenster haben Sandsteingewände, Hohlkehle, Fase und Ladenfalz. Heute befindet sich unterhalb des vierteiligen Reihenfensters eine Bank. Vermutlich befanden sich anstelle der Bank zwei Sitznischen, analog zum Fenster in der Westwand. Zwei Wandnischen befinden sich in der West- und Ostwand, zudem eine nachträglich ins Mauerwerk eingebaute Türe. Diese lässt auf eine Verbindung mit dem einst östlich anschliessenden Gebäude schliessen, das im frühen 20. Jh. abgebrannt ist.
Die Deckenbalken der Stube sind mit einem imposanten Kassettentäfer verkleidet. In bauhistorischem Zusammenhang mit der Bürgerstube steht der Aborterker, der sich im Hinterhaus auf demselben Stockwerk befand. Zur Ausstattung des 1. Obergeschosses passen die Wandmalereien in der gassenseitigen Kammer im 2. Obergeschoss. Links und rechts eines einfachen Rechteckfensters mit Ladenfalz befinden sich schwarze Begleitstriche und eine ebenfalls schwarz gefasste kleine Lichtnische. Zugemauerte Löcher zeigen, dass die spätgotische Decke später rückgebaut und durch neue Balken ersetzt worden ist.
Aktuelle Restaurierungsarbeiten
Eigentümer Alex Hürlimann hat im Sommer 2020 den Antrag für die Unterschutzstellung der Liegenschaft Reussgasse 10 beantragt. Seit Dezember 2020 steht das Altstadthaus unter kantonalem Schutz. Der Besitzer bewohnt eine Etage des Hauses mit seiner Familie, weitere zwei Wohneinheiten sind geplant, im Erdgeschoss soll ein kleines Gewerbe Platz finden. Den Innenausbau tätigt der gelernte Schreiner gleich selbst. Für den Einbau der Gebäudetechnik, vor allem Strom, Wasser und Heizung, zieht er Fachpersonen bei.
Eigentümer und Eigentümerinnen verfügen über verschiedene Möglichkeiten, wie sie auf den Wert einer Immobilie einwirken können. Dieser wird nämlich nicht nur durch wirtschaftliche Aspekte wie Lage, Zustand und Nutzung generiert, sondern hängt im Falle eines Altbaus in hohem Masse auch von der Bereitschaft der Eigentümer und Eigentümerinnen ab, sich mit der historischen Bausubstanz auseinander zu setzten und für ihr Gebäude massgeschneiderte Nutzungs- und Sanierungslösungen zu erarbeiten. Ganz im Sinne des Best-Owner Prinzips, das nicht eine maximale Rendite, sondern eine umfassende und nachhaltige Wertschöpfung in den Vordergrund stellt, haben im Fall der Reussgasse 10 in Bremgarten Gebäude und Besitzer ideal zueinander gefunden.