Die unlängst abgeschlossenen Recherchen zur Baugeschichte der Pfarrkirche St. Nikolaus konnten von gleichzeitigen Erschliessungsarbeiten im Pfarrarchiv profitieren, während denen im geräumigen Buchtresor, unter einem losen Bodenbrett, eine kleine Kartonschachtel zum Vorschein kam. Sie enthielt neun bis dahin unbekannte Fotoplatten aus Glas, dem vor der Erfindung des lichtempfindlichen Films üblichen Material für photographische Aufnahmen. Die Lagerung dieses kleinen Schatzes im doppelten Boden des Safes kann als Glücksfall gelten, da die zerbrechlichen Glasplatten ansonsten das vergangene Jahrhundert wohl kaum überstanden hätten.
Kirchenerweiterung in der Zwischenkriegszeit
Die Photographien sind besonders wertvoll, weil sie als einzige Bilddokumente die Erweiterung der Kirche in den Jahren 1924–25 illustrieren. Schon vor der Jahrhundertwende waren Ideen zu einer Vergrösserung der Kirche St. Nikolaus erwogen worden, weil die ca. 800 Angehörigen der Pfarrei, zu der die Gemeinden Schneisingen und Siglistorf zählten, längst nicht mehr Platz fanden in der alten Kirche. Knappe Finanzen und der Erste Weltkrieg machen diese Pläne zunächst aber obsolet. Erst 1923 nahm man die Lösung des Platzproblems wieder an die Hand und liess von Arthur Betschon in Baden einen westseitigen Anbau an das bestehende Kirchenschiff entwerfen. Der Baugrund würde sich dann bis auf den Friedhof erstrecken, weshalb die Grabesruhe aufgehoben und ein Teil des Gottesackers verlegt werden mussten. Die Eingangspartie des alten Kirchenschiffs wurde niedergerissen, um daran die saalartige Erweiterung anzufügen. Dabei wurde die Empore wurde als Stahlbetonbau aufgeführt – ohne Zweifel gab diese moderne Bauweise mit den Ausschlag, die Arbeiten photographisch für die Nachwelt festzuhalten.
Spätmittelalterlicher und barocker Kirchenbau
Eine Kirche in Schneisingen findet erstmals im Jahr 1120 Erwähnung. Die ältesten heute noch bestehenden Partien der Kirche – Chor und östliches Langhaus – entstanden aber erst 1523, kurz bevor Bauernkrieg und Reformation die gesellschaftlichen und institutionellen Verhältnisse ins Wanken brachten. So konnte die Pfarrkirche erst 1536 geweiht werden. Zeugen dieser turbulenten Entstehungsjahre sind die Reste eines ursprünglich grösseren Wandbildzyklus, von dem heute noch die Figuren der Apostel Johannes und Philippus an der südlichen Kirchenschiffwand erhalten sind. 1664 liess der streitbare Pfarrvikar Johann Georg Stressler die Kirche ein erstes Mal verlängern und mit einer Empore über dem neuen Westportal versehen. Zum Ärger seiner Gemeinde liess der Seelsorger den Apostelfries weiss übermalen. 1974 konnte nur noch die heute sichtbare Partie restauriert werden.
Veränderungen im 19. Jahrhundert
Der Innenraum der Kirche Schneisingen erlebte ab 1817 gleich mehrfach eine Umgestaltung. Bis 1824 wurden Haupt- und Nebenaltäre durch klassizistische Aufbauten ersetzt, auch eine neue Kanzel und eine Gipsdecke eingebaut. 1856–1861 wurden Altäre und Figurenschmuck nach einem veränderten Farbkonzept neu gefasst und für den Hauptaltar wie auch die beiden Nebenaltäre frische Gemälde angefertigt. Den damals berühmtesten Kirchenmaler der Schweiz, den Nidwaldner Melchior Paul von Deschwanden, konnte der Kirchenvorstand zwar nicht für diese Aufgabe gewinnen. Aber dessen Schüler, Heinrich Keyser, schuf eine Darstellung des heiligen Nikolaus sowie ein Gemälde, das eine jugendliche Madonna mit Kind auf ihrem Schoss zeigt. Mit Abschluss der Umgestaltung des Kircheninnern wandte man sich dem Kirchturm zu. Dieser war der höheren Belastung durch ein neues Geläut, das sich die Pfarreimitglieder wünschten, nicht gewachsen und musste einem Neubau weichen. Das Dach des 1865 fertiggestellten Turms hielt der Witterung allerdings kein halbes Jahrhundert stand und wurde 1906 durch den gotischen Spitzhelm ersetzt, der seither die Fernwirkung der Kirche mitbestimmt.
Der Gegensatz von Tradition und Moderne
Betschons 1924–25 realisierte Erweiterung des Kirchenbaus folgte in der äusseren, mehr noch in der inneren Formgebung dem historistischen Stilpluralismus, dem die Pfarrkirche ein letztes Mal 1888 unterworfen worden war. Will heissen: Die betonierte Emporenbrüstung wurde mit Stuckauflagen in Kartuschen unterteilt, die Wände mit Kranzgesims und Pilastern, die Decke mit ornamentalen Malereien dekoriert, selbst die Glasfenster wurden mit Ranken geziert, als ob die Belle Époque im Surbtal nie geendet hätte. 1973–74 wurde die Pfarrkirche einer Modernisierung unterzogen, die mit bilderstürmerischem Elan die altehrwürdige Ausstattung hinwegfegte. Die hochaufragenden Altäre mussten einem einfachen Tisch Platz machen, der Chorraum war nicht länger sakrosankt, sondern Ort des aktiven Miteinanders der Glaubensgemeinschaft. Kanzel und Stuckdekor wurden zu Gunsten eines "wohnlicheren" Raumeindrucks des Kirchenschiffs entfernt. Einzig Betschons Anbau, der mittels flexibler Trennwand als Pfarreisaal eingerichtet wurde, behielt seinen – jetzt altertümlich wirkenden – Dekor.