Ein Ausflug für "Liebhaber einer vorzüglich schönen Fernsicht"
Die Gislifluh ist als einer der schönsten Aussichtspunkte im Kanton bekannt. Mit seinen 772 Metern ist der Gipfel zwar keineswegs die höchste Erhebung im Aargauer Kettenjura. Seine markante, unbewaldete Felsnase bietet aber einen ungehinderten Rundblick, der praktisch den gesamten Alpenbogen vom Säntis über den Glärnisch bis zum Berner Oberland erfasst; nach Norden sind zudem der Schwarzwald und der Hegau zu sehen. Gerade bei gemässigteren Temperaturen und guter Fernsicht lohnt sich im Spätsommer ein Ausflug auf den Aarauer Hausberg.
Wer sich nach dem Aufstieg durch die waldigen und schattigen Abhänge ausruhen möchte, findet auf dem Gipfel zwei Reihen von Sitzstufen, die dort direkt aus dem anstehenden Fels gehauen sind: Rund um den höchsten Punkt ist der Kalkstein zu einem langgestreckten Plateau abgearbeitet, das sich mit langen, geraden Stufen nach Süden zum Alpenpanorama wendet. Im Rücken bietet eine niedrige Steinbrüstung einen optischen Schutz vor dem steiler abfallenden Nordhang.
Die Erschliessung der Landschaft
Neben ihrer Funktion als willkommene Sitzgelegenheit bilden die Sitzstufen, was weniger bekannt ist, auch ein sehr erstaunliches Kulturdenkmal und wurden deshalb bei der kürzlichen Aktualisierung neu ins Bauinventar der Gemeinden Auenstein und Thalheim aufgenommen: Nach ihrer Machart scheinen sie in Handarbeit und also wohl mit einiger Anstrengung aus dem anstehenden Fels gehauen. Aufgrund der Verwitterungsspuren und Abnutzungen können wir folgern, dass die Anlage schon etwas älter ist, und dazu passt auch, dass sie wahrgenommen wird, als sei sie immer schon dagewesen.
Sucht man Auskunft über ihre Entstehung, wird man bei Franz Xaver Bronner fündig, der 1844 ein zweibändiges landeskundliches Werk über den Kanton Aargau verfasste, "nebst Anweisung, denselben auf die genussreichste und nützlichste Weise zu bereisen", wie es im Untertitel heisst. Dort lesen wir nun zu unserem Berggipfel: "Die Gisläfluh ist ein langgestreckter waldiger Bergrücken, dessen oberster Grath gegen Norden etwas steil abfällt. Auf dem westlichen Ende desselben haben Liebhaber einer vorzüglich schönen Fernsicht ein Kreissegment bequemer Felsensitze aushauen lassen und einen freien Platz davor abgeebnet."
Einen Hinweis, wer diese Aussichtsfreunde waren, gibt ein unscheinbarer, behauener Stein im Gatter, dem Sattel zwischen Biberstein und Thalheim, den man beim üblichen Aufstieg von Aarau über Biberstein auf die Gislifluh passiert. Der offensichtlich als Wegweiser aufgestellte Muschelkalkpfosten ist auf der einen Seite mit dem Namen "Gisula Flue" und einem Pfeil beschriftet. Auf zwei weiteren Seiten sind die Buchstaben "G.F.V.C." und "B.G.A." nebst der Jahrzahl 1829 eingemeisselt.
Die Entdeckung der Aussicht
Aufzuschlüsseln ist die erste Abkürzung als "Gesellschaft für vaterländische Cultur". Diese war 1811 von einer Reihe liberaler, durch die Freimaurerei verbundener Aarauer um Heinrich Zschokke gegründet worden und bildet die Vorläuferin der heute noch existierenden Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Aargau. Ab 1814 richtete man in jedem Bezirk eigene Sektionen ein, so die "Bezirksgesellschaft Aarau", auf die sich die zweite Abkürzung bezieht und die heute als Kulturgesellschaft des Bezirks Aarau firmiert. Die Muttergesellschaft wie auch ihre Sektionen widmeten sich einem ganzen Spektrum von Aktivitäten, das von der naturwissenschaftlichen und historischen Forschung über Volksbildung und -erziehung bis zur gemeinnützigen Tätigkeit im engeren Sinn reichte. Macht man sich nun in der Geschichte dieser Gesellschaft kundig, stösst man tatsächlich wieder auf unseren Berg: "Einer der schönsten Aussichtspunkte im Aargau, der Gipfel der Gisulafluh, wurde im […] Jahre 1819 durch bequemere Zugänge, durch Einhauen einer Brustwehr in den lebendigen Fels und durch Anbringung von Ruhebänken besuchbarer hergerichtet", rapportierte der Pfarrer und Schriftsteller Emil Zschokke in einer Darstellung von 1861, um gleich eine Begründung hinterherzuschieben, weshalb eine solche Unternehmung den gemeinnützigen Zielen der Gesellschaft entspreche: "Vergnügen, das man Andern bereitet, ist auch eine Wohlthat und Freude an Naturgenuss immer ein Zeichen steigender Civilisation."
Ob der Wegweiserstein mit der Jahrzahl 1829 erst zehn Jahre nach der Entstehung der Sitzstufen gesetzt wurde oder ob sich der Chronist von 1861 in der Jahrzahl irrte, ist nicht bekannt. Ob die Sitzstufen nun aber 1819 oder 1829 entstanden sind, hat man durch die Recherche jedenfalls erfahren, dass es sich hier um ein sehr frühes Beispiel einer bewusst gestalteten Anlage handelt, die einzig und allein zum Genuss der Aussicht diente. So war die Alpenlandschaft im 19. Jahrhundert nicht nur ein beliebtes Thema der Malerei. Regen Zuspruch erfuhren auch die Einrichtung und Erschliessung von Aussichtspunkten, welche den Blick auf die Alpen ermöglichten und so das Landschaftsbild gewissermassen rahmten – man denke an so verschiedene Dinge wie Seequais mit Alpenblick etwa in Luzern, Zürich oder Genf, an Aussichtstürme, Bergbahnen oder Grand Hotels mit Blick zum Gebirgspanorama. Das damals neue kulturgeschichtliche Phänomen dokumentiert damit auch das breite Interesse für die Alpen, die nicht zuletzt auch in der Nationalidentität eine zunehmend zentrale Rolle einnahmen.
Der wissenschaftlich präzise Blick
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erfasste die Begeisterung für das Wandern und das Aufsuchen von Aussichtspunkten immer breitere Kreise. Ganz in diesem Sinn fand die Gislifluh, "über welche ein Fussweg ins Schinznacher Bad führt, mit Aussicht auf den Hallwyler und Baldegger See" 1887 auch im "Baedeker" Erwähnung, der eigentlichen Bibel des Tourismus. Gleichzeitig wurde der Blick auf die Alpen auch zunehmend genauer. Eine Gattung von Objekten, welche dies dokumentiert, sind die sogenannten Alpenzeiger, wie man sie von vielen Aussichtspunkten kennt: fest installierte, meist gravierte Metalltafeln, auf denen die sichtbaren Berggipfel benannt werden. Sie entwickelten sich im späteren 19. Jahrhundert aus den schon länger verbreiteten, gedruckten und faltbaren Alpenpanoramen. Mittlerweile ist ihre Funktion schon seit einigen Jahren von der App "Peak Finder" übernommen worden, die man wie die gedruckten Panoramen wieder in der eigenen Tasche mit sich führt.
Im Jahr 1900 und damit in der Hochkonjunktur dieser Vorrichtungen liess der Verkehrs- und Verschönerungsverein Aarau auf der Gislifluh einen solchen Alpenzeiger installieren. Prompt ergänzte der stets gut informierte "Baedeker" in der nächsten Ausgabe von 1911: "oben Orientierungstafel". Bei dieser handelt es sich um ein besonders schönes, kürzlich im Auftrag der Gemeinde Auenstein fachgerecht restauriertes Exemplar. Die gravierte Messingplatte ruht auf einer Gusseisensäule und wird von einem schweren, beweglichen Deckel geschützt. Sie ist im Unterschied zu vielen anderen Alpenzeigern nicht mit einer Ansicht des Bergpanoramas graviert, sondern zeigt nur die strahlenförmigen Blickrichtungen mit den Namen der entsprechenden Bergspitzen. Die Darstellung ist wohl weniger als Vereinfachung zu verstehen, sondern bringt den zunehmend wissenschaftlicheren Blick auf die Alpen zum Ausdruck: Gefragt war nicht mehr nur das Bild, sondern die topografisch genaue Wiedererkennung und Benennung der Berggipfel.
Die Vermessung der Landschaft
Nicht weit vom Alpenzeiger steht ebenfalls auf den Sitzstufen eine Triangulationspyramide, die eine ganz andere, zweite Nutzung des Berggipfels dokumentiert: Wegen ihrer markanten, gut erkennbaren Form und der weiten Sichtbarkeit diente die Gislifluh schon im ausgehenden 18. Jahrhundert den kartografischen Aufnahmen für den "Atlas Suisse", der 1796-1802 vom Aarauer Johann Rudolf Meyer Vater zusammen mit Johann Heinrich Weiss und Joachim Eugen Müller herausgegeben wurde ("Meyer-Weiss-Atlas"). 1837 nutzte der Kartograf Ernst Heinrich Michaelis bei den Aufnahmen für seine bekannte aargauische Kantonskarte ("Michaeliskarte") den Gipfel als Fixpunkt. Im Rahmen der eidgenössischen Landesvermessung unter Guillaume-Henri Dufour und später Hermann Siegfried ("Siegfriedkarte", 1870-1926) wurde dieser schliesslich zu einem Vermessungspunkt zweiter Ordnung bestimmt. 1867 erstellte man auf dem Gipfel als Markierung zu diesem Zweck eine hölzerne Pyramide, die 1903 durch eine eiserne ersetzt wurde. Die heutige Pyramide ist jüngeren Datums.
Wer nun den Aufstieg auf die Gislifluh selbst in Angriff nehmen will, ist nicht auf den "Baedeker" von 1887 oder 1911 angewiesen. Im Netz finden sich viele lohnende Wanderrouten, so dass wir auf einen eigenen Vorschlag verzichten.