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Fachinventare

Projektarbeit: Grosssiedlung "In den Wyden" in Birr

Die Architektin Damaris Hermann hat als Thema für ihre Projektarbeit Grosssiedlungen der Nachkriegszeit in der Schweiz gewählt. Den Fokus setzte sie dabei auf die Aargauer Siedlung "In den Wyden" in Birr. Sie wollte sich mit einer aktuellen Fragestellung beschäftigen und hofft, dass einige Perlen dieser Bauform als Zeitzeugen erhalten bleiben. Für die Auswahl und Eingrenzung ihres Themas setzte sie sich mit der Kantonalen Denkmalpflege in Verbindung.

Die Siedlung "In den Wyden" in Birr. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_FC01-5242-005 / CC BY-SA 4.0.

In lockerer Form auf einem Areal verteilt stehende, grossvolumige Baukörper, dazwischen weite, frei zugängliche Rasenflächen: In ganz Europa wurden in den 1960-80er Jahren Grosssiedlungen dieser Art erbaut. Sie entstanden als Reaktion auf die vorangegangenen Stadtentwicklungen und waren Ausdruck eines grossen Unbehagens gegenüber Grossstädten und gegenüber der Entwicklung der Städte seit dem Beginn von Industrialisierung und Verdichtung.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts zogen immer mehr Leute auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt. Die Einwohnerzahlen in den Städten nahmen massiv zu. Der Ruf nach einer Verdichtung der Baustruktur wurde laut – ein auch heute wieder hochaktuelles Thema.

CIAM und Charta von Athen – Sonne, Luft, Raum und Grün!

Entscheidend für die zukünftige Stadtentwicklung und Stadtplanung wurden die CIAM, die Congrès Internationals de l'Architecture Moderne. Dieser internationale Arbeitskreis von Architekten und Planern dachte ab 1928 gemeinsam über die moderne Stadt nach und erstellte insgesamt 34 Stadtanalysen. Am 4. CIAM-Kongress von 1933 in Athen wurden die grundlegenden Leitideen für den modernen Städtebau in Form der "Charta von Athen" geschaffen. Die 95 Thesen hat die europäische Stadtplanung bis in die neueste Zeit stark geprägt. Man findet darin die Hauptforderungen für den modernen Städtebau ab den 1930er Jahren: Viel Sonne, Luft, Raum und Grün für die Wohngebiete. Ausserdem wurde darin die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr propagiert, ebenso getrennte Verkehrswege für Fussgänger/innen und Autos.

In der Folge entstanden in den 1950er Jahren am Rand der bestehenden Städte Grossüberbauungen. Hochhäuser galten als Wahrzeichen des Fortschritts. Sie wurden jedoch in dieser Zeit in eine gemischte Bauweise eingebettet, mit punktförmigen und linearen Baukörpern unterschiedlicher Höhe und Grösse.

Eine Grosssiedlung im ländlichen Birr

Die Siedlung "In den Wyden" im Bau. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_F65-05404 / CC BY-SA 4.0.

Die Siedlung "In den Wyden" steht deutlich in dieser Architekturtradition der Moderne und Nachkriegsmoderne und gleicht in ihrer Form den Grosssiedlungen der 1960-70er Jahre in ganz Europa.

Die BBC nahm im April 1960 den Produktionsstandort in Birr in Betrieb. Die Firma baute in der Folge für ihre mehrheitlich ausländischen Gastarbeiter neue Wohnungen in unmittelbarer Nähe. Aufgrund von grossen Expansionsvisionen kaufte die BBC damals über 22 Hektaren Landfläche, um ein neues städtisches Zentrum zwischen Lupfig und Birr zu errichten. Die Investoren rechneten mit über 30'000 neuen Bewohnerinnen und Bewohnern. Geplant waren 500 einfache, aber geräumige Wohnungen mit genügend Grünflächen. Der Mensch sollte im Mittelpunkt der Siedlung stehen, Familien ein harmonisches Umfeld haben und die Arbeitskräfte nach der Arbeit Erholung und Entspannung finden.

Interview mit der Autorin der Projektarbeit

Damaris Hermann hat an der Zürcher Hochschule Winterthur ZHW Architektur studiert. Sie arbeitet seit fünf Jahren im Architekturbüro BGS & Partner Architekten in Rapperswil. Aktuell absolviert sie den Masterstudiengang "Master of science in engineering, Raumentwicklung und Landschaftsarchitektur (ReLa)" an der Fachhochschule OST in Rapperswil.

Grosssiedlung Birr, Zusammenspiel von Grünfläche und Architektur, © Damaris Hermann, 2021.

Damaris Hermann, weshalb schrieben Sie Ihre Projektarbeit über die Siedlung "In den Wyden" in Birr und wie gingen Sie vor?

Aus einem mehrseitigen Dossier mit Themenvorschlägen sprach mich das Thema Grosssiedlungen gleich an. Nach meiner letzten Arbeit zur Entwicklung von Einfamilienhäusern geht es bei den Grosssiedlungen um die grosse Struktur und das Siedlungskonzept. Wichtig war mir sofort der Kontakt mit zuständigen Behörden. Mich reizt eine Arbeit, die eine aktuelle Fragestellung aufgreift, zu einem Thema, deren (garten-)denkmalpflegerische Aufarbeitung einer Fachstelle dient.

Als Architektin, die sich seit fünf Jahren mit Bauen im Bestand auseinandersetzt, ist mir ein guter Kontakt zur Denkmalpflege wichtig. Mein Austausch mit Denkmalpflege-Fachstellen war bisher immer sehr lohnend. Bei der Auseinandersetzung mit der Publikations- und Archivlage der Grosssiedlungen auf Aargauer Kantonsgebiet stellte ich fest, dass über Siedlungen wie die Webermühle in Neuenhof, Augarten in Rheinfelden oder die Telli in Aarau bereits publiziert wurde. Im regen Austausch mit der Kantonalen Denkmalpflege kristallisierte sich die Siedlung "In den Wyden" im ländlichen Birr als geeignetes Objekt heraus, zu dem kaum etwas publiziert ist.

In einem ersten Schritt habe ich viele Siedlungen angeschaut und festgestellt, dass sie sich in Atmosphäre und Charakter sehr ähneln. Obwohl ich mich bei meiner Arbeit auf den Aussenraum und die Grünflächengestaltung konzentrieren sollte, stellte ich als Architektin fest, wie wichtig gerade in Grosssiedlungen das Zusammenspiel von Architektur und Aussenraum ist.

Welcher Stellenwert hatten Freiräume bei der Gestaltung von Grosssiedlungen ab den späten 1950er Jahren und was zeichnet die Freiräume in der Siedlung in Birr aus?

Was ich spannend fand, war, dass man erst ab den 1950er Jahren beim Bau von Hochhäusern von einer Ausnützungsziffer sprach. Bau- und Nutzungsordnungen kamen erst da auf. Man war sich bewusst, dass man grosse Volumen produziert. Freiräume wurden entsprechend eingeplant. Diese waren durch den Bau von Tiefgaragen unter den Wohnbauten immer autofrei, eine Qualität, die man in diesen Siedlungen heute noch schätzt. Trotz der grossen Grünflächen wurden intime Plätze konzipiert. Erdmodellierungen an den Siedlungsrändern betten die Aussenräume ein und sondern Strassen ab. Der Freiraum in Birr wird von den Wohnblöcken eingefasst, die wie Bau-Spangen die Grünfläche umfassen. Das gibt den Bewohnerinnen und Bewohnern ein geborgenes, behütetes Gefühl sowie den Eindruck eines privaten Gartens, der jedoch allen gehört. Verbindungswege ermöglichen mit einem Durchgang durch die Sockelgeschosse der Wohnzeilen den Blick in die Welt ausserhalb der Siedlung. Die Vegetation ist sehr typisch für eine Siedlung dieser Zeit. Es gibt viele Solitärbäume, aber auch Gruppierungen von Bäumen. Man hat sich an skandinavischen, brasilianischen und japanischen Vorbildern orientiert.

Erdmodellierung und Baumbestand der Grosssiedlung Birr. © Damaris Hermann, 2021.

Wo gibt es Gemeinsamkeiten von Grünflächengestaltung in anderen Grosssiedlungen der Nachkriegszeit?

Alle Siedlungen sind dank der Tiefgaragen autofrei, die gross angelegten Grünflächen weisen Erdmodellierungen auf. Ausserdem ist die Auswahl der Gehölze ähnlich. Beton-Fertigelemente mit eher rauen Oberflächen als Sitzgelegenheiten kommen ebenfalls häufig vor. Einzelne Steinbrocken, welche eine Struktur in den grossen Rasenflächen schaffen, sowie Spielplätze sind allen Grosssiedlungen gemeinsam. Bei der Recherche fiel mir auf, dass häufig die gleichen Personen und Firmen zusammenarbeiteten, beispielsweise die Ernst Göhner AG mit dem Landschaftsarchitekten Christian Stern.

Die Siedlung "In den Wyden" im Bau. © Kantonale Denkmalpflege Aargau.

Wie wurden bei der Projektierung der Siedlung "In den Wyden" die Grünflächen von den Architekten eingeplant?

Häufig waren es die ausführenden Architekten, die auch die Gartenanlagen planten – im Fall von Birr vermutlich Charles-Edouard Geisendorf und Robert Winkler. Der Situationsplan ist das einzige Dokument, auf dem die Planung der Grünflächen festgehalten wurde, allerdings weicht er in gewissen Punkten von der Realität ab. Beispielsweise sind die Bäume nicht genau da gesetzt worden, wo sie eingezeichnet sind. Doch leider war die aufwändige Suche nach dem ausführenden Landschaftsarchitekten ergebnislos. Die Verbindung des Aargauer Landschaftsarchitekten Albert Zulauf zur Firma Brown Boveri & Cie. konnte bestätigt werden. Die Kantonale Denkmalpflege stellte den Kontakt zu seinem Sohn, Rainer Zulauf, her. Dieser ermöglichte im grossen Nachlass seines Vaters im heutigen Archiv des Studio Vulkans in Altstetten nach Plänen zu suchen. Zwar tauchte der Name BBC in vielen Dokumenten auf, jedoch konnte keine eindeutige Verbindung von Albert Zulauf zur Siedlung "In den Wyden" festgestellt werden.

Birr mit der Siedlung "In den Wyden" in der Bildmitte. © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Müller, Benjamin / AIC_02-DD-251060-007 / CC BY-SA 4.0 (Ausschnitt).

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft von Grosssiedlungen aus? Wo attestieren sie ihnen Vor- und wo Nachteile?

In Bezug auf die heutige Zeit sehe ich sehr viele Vorteile von Grosssiedlungen und deren Gartengestaltung. Die Wohnungsgrundrisse sind immer noch sehr beliebt. Nachteile ergeben sich seitens Unterhalt, die soziale Durchmischung ist immer wieder Thema, weil die Mieten nicht hoch sind. Dadurch ist die Aussenwirkung oft nicht gut. In vielen Siedlungen sieht man als Lösung eine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen.

In Birr liegt ein Masterplan für die freistehende Wiese nebenan vor. Durch die Verdichtung einer Grosssiedlung, die als in sich geschlossenes System geplant war, besteht die Gefahr, dass die bestehenden Volumina darunter leiden. Die Siedlung fällt in ihrer Massigkeit nicht auf, weil von der Strasse her nur die Kopfseite der Gebäude sichtbar ist. Die Neubauten würden jedoch exakt zwischen diesen Wohnzeilen stehen und das Volumen sichtbar verdoppeln.

Oft ist den Gemeinden nicht bewusst, welche ausserordentlichen, als Gesamtwerk konzipierten Zeitzeugen sie haben, die ein in sich geschlossenes, funktionierendes System bieten. Es sollte beim Umgang damit nicht um subjektive Wahrnehmung gehen, sondern darum, dass ein Objekt die Geschichte eines Dorfs widerspiegelt und einen sensiblen Umgang verdient.

Obschon Grosssiedlungen aufgrund ihrer Eigentumsverhältnisse selten unter Schutz gestellt werden können, könnte die Denkmalpflege die Rolle als Vermittlerin einnehmen. Das Schönste wäre aus meiner Sicht, wenn man Grosssiedlungen als Schutzzone in der Bau- und Nutzungsordnung eintragen könnte, und wenn eine denkmalpflegerische Begleitung bei Sanierungs- und Erweiterungsprojekten möglich wäre. Es wäre schön, wenn die Grosssiedlungen mehr Beachtung erhalten würden und ein paar von ihnen als Zeitzeugen bestehen bleiben könnten.
(Franziska Schmid)