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November 2021

"Der Regierungsrat nimmt das Thema der Stromversorgungssicherheit sehr ernst"

Portrait von Regierungsrat Stephan Attiger
© Beni Basler / Foto Basler Aarau

Die Energie- und Klimapolitik sind im Programm "Aargau 2030" zwar nicht explizit enthalten, der Regierungsrat nimmt diese Themen aber sehr ernst. Aktuell wird vor allem die Stromversorgungssicherheit breit diskutiert. Landammann und Energiedirektor Stephan Attiger spricht im Interview über die drohende "Stromlücke" sowie über die damit zusammenhängenden Herausforderungen für die Schweiz und für den Energiekanton Aargau.

Herr Landammann Stephan Attiger, der Regierungsrat hat zusammen mit dem Entwicklungsleitbild 2021–2030 ein Programm "Aargau 2030 – Stärkung Wohn- und Wirtschaftsstandort" lanciert. Die Energie- und Klimapolitik sind darin nicht enthalten. Warum?

Das stimmt, aber heisst natürlich nicht, dass das für den Regierungsrat keine wichtigen Themen sind. Der Kanton Aargau hat unter anderem einen Entwicklungsschwerpunkt "Klimaschutz und Klimawandel" ins Leben gerufen, eine kantonale Klimastrategie erarbeitet und im Entwicklungsleitbild 2021–2030 das strategische Handlungsfeld "Klimaschutz und Klimaanpassung für Innovationen nutzen" festgelegt. Der Klimawandel ist eine der grössten Herausforderungen der heutigen und künftigen Generationen, eröffnet aber auch neue Chancen.

Inwiefern?

Der Hightechkanton Aargau bietet gute Voraussetzungen, um innovative Techniken und Verfahren zur weiteren Reduktion der Treibhausgasemissionen und zur Anpassung an den Klimawandel zu entwickeln – Lösungen, die weltweit Wirkung entfalten können und gleichzeitig zur Wertschöpfung im Kanton Aargau beitragen. Das ist auch eine wichtige Schnittstelle zwischen Klima- und Energiepolitik.

Was heisst das konkret?

Energie- und Klimapolitik gehen Hand in Hand: Massnahmen im Energiebereich wirken sich unmittelbar auf die Erreichung der klimapolitischen Ziele aus. Hier kann und muss der Aargau als traditioneller Energiekanton und wichtiger Standort für die Energieforschung und für Energie- und Elektrotechnik-Unternehmen einen Beitrag leisten. Gleichzeitig trägt er mit der Wasserkraftnutzung und den Kernkraftwerken wesentlich zur Stromproduktion und Versorgungssicherheit in der Schweiz bei.

Sie sprechen ein Thema an, das aktuell in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wird: die Stromversorgungssicherheit.

Ja. Das Thema hat endlich den Stellenwert, den es verdient. Wir haben bereits im durch den Kanton Aargau initiierten Energie-Trialog im Jahr 2013 auf die Problematik hingewiesen – unter anderem auf die "Winterlücke", die durch Importstrom gedeckt werden muss. Die heute diskutierten Fragen waren also schon damals alle auf dem Tisch, seither haben aber einige Voraussetzungen geändert.

Was ist anders als damals?

Einerseits ist die Klimafrage akut geworden, und heute ist die Energiepolitik wie gesagt nicht mehr von der Klimapolitik zu trennen – Stichwort Energiewende oder Energiezukunft, wie ich es lieber nenne. So sind etwa die CO₂-Problematik und das Ziel "Netto Null bis 2050" in den Mittelpunkt gerückt; ein Beispiel dazu ist der Kohleausstieg in Deutschland. Gleichzeitig ist die Idee, mit Gaskraftwerken die Versorgungssicherheit zu gewährleisten wegen ihres CO₂-Ausstosses weniger attraktiv geworden. Andererseits waren die damaligen Prognosen zum Ausbau der erneuerbaren Energien wie Photovoltaik oder Windenergie zu optimistisch.

Und auch die Schweiz hat den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen…

Ja. Um die Atomkraft durch erneuerbare Energien zu ersetzen, braucht es einen riesigen Effort. Nur ein Beispiel: Das Kernkraftwerk Leibstadt produziert jährlich im Schnitt 9'600 Gigawattstunden Strom; bei der grössten Photovoltaikanlage im Kanton mit 12'700 Quadratmetern auf dem Dach der Holcim in Siggenthal erwartet man eine Produktion von 2,3 Gigawattstunden pro Jahr. Das heisst: Um Leibstadt zu ersetzen, braucht es rund 4'000 solcher Anlagen.

Was sind die weiteren Herausforderungen im Hinblick auf eine sichere Stromversorgung?

Diese sind komplex, denn die Versorgungssicherheit umfasst drei Elemente: Netze, Produktion und Effizienz. Zuerst einmal zu den Netzen. Die Schweiz war schon immer eine Strom-Drehscheibe im Herzen Europas. Sie hat 41 Verbindungspunkte zu ihren Nachbarn – mehr als jedes andere Land auf der Welt – und ist ein wichtiges Transitland. Nun droht dem Schweizer Stromsystem aber eine schleichende Marginalisierung – sowohl institutionell als auch kommerziell. Um das zu verhindern, bräuchte die Schweiz dringend das Stromabkommen mit der EU. Dieses liegt aber auf Eis, weil die EU es vom ebenfalls blockierten Rahmenabkommen verknüpft.

Und die EU schaut zuerst einmal für sich selber…

Gegenwärtig werden die Schweizer Stromakteure – zum Beispiel die Swissgrid – aus den Gremien und Märkten der EU ausgeschlossen. So müssen unsere Nachbarländer spätestens ab 2025 mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten für den Handel zwischen EU-Mitgliedstaaten reservieren. Um dies zu erreichen, entlasten sie ihre internen Netzengpässe zeitweise auf Kosten der Exportkapazitäten in die Schweiz. Gleichzeitig steigt der Bedarf auch in den Nachbarländern. Frankreich zum Beispiel hat wiederholt Mühe, seinen eigenen Strombedarf im Winter zu decken. Fakt ist und bleibt: Die Schweiz wird langfristig im Winterhalbjahr auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen sein. Es ist jedoch ungewiss, wieviel Strom die Schweiz in Zukunft importieren kann.

Dann ist das Hauptproblem der Winter?

Genau. Der Gesamtjahresverbrauch und die Tagesspitzen sind herausfordernd, aber aus heutiger Sicht zu bewältigen. Für die Winterspitzen braucht es dagegen Lösungen. Der Bund schlägt in einem kürzlich veröffentlichten Mantelerlass für die Stromversorgungssicherheit im Winter drei Säulen vor: Den Zubau von Speicherkraftwerken – also Stauseen in den Alpen – und von erneuerbaren Energien sowie eine strategische Energiereserve. Letztere soll als Notvorrat für unvorhersehbare Situationen dienen. Die Stossrichtung dieser Massnahmen stimmt, sie sind aber nicht ausreichend.

Gibt es weitere Lösungsvorschläge?

Aktuell werden verschiedene Vorschläge diskutiert. Ein Ansatz ist sicher, wie vom Bund vorgeschlagen, die Bewilligungsprozesse für neue Solar- und Windanlagen zu beschleunigen. Allerdings dürfen dabei die Mitwirkungsrechte nicht beschnitten werden. Eine weitere Möglichkeit ist eine längere Laufzeit für die bestehenden Kernkraftwerke – selbstverständlich nur unter der Voraussetzung, dass diese sicher betrieben werden können.

Werden auch neue Kernkraftwerke wieder zum Thema?

Diese Frage stellt sich gar nicht. Erstens hat das Volk den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Zweitens kann ein neues Kernkraftwerk nicht wirtschaftlich betrieben werden. Zur Diskussion stehen aber neue Gaskraftwerke, die uns helfen könnten, die Winterstromlücke zu überbrücken. Der Aargau wäre übrigens ein möglicher Standort für ein solches Kraftwerk, weil wir hier bei uns die dafür nötigen Netze haben. Im Hinblick auf die Reduktion des CO₂-Ausstosses besteht aber ein Anspruch auf einen CO₂-neutralen Betrieb eines solchen Gaskraftwerks. Biogas, aber auch die aufkommenden synthetischen Gase und Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen werden diesem Anspruch gerecht. Diese Brennstoffe machen ein solches Projekt heute jedoch einiges kostspieliger. Bevor wir ein oder mehrere Gaskraftwerke planen, müsste der Import von dem benötigten Gas mit entsprechenden Abkommen gesichert werden.

Bleiben wir im Aargau. Welchen Beitrag kann der Kanton leisten?

Der Kanton ist auf verschiedenen Ebenen aktiv. Wir haben die Herausforderungen früh erkannt, wie das eingangs erwähnte Beispiel des Energie-Trialogs zeigt. Der Aargau war bereits im 2015 auch der erste Kanton, der die Ziele und Stossrichtungen der Energiestrategie des Bundes übernommen hat beziehungsweise in seine kantonale Strategie energieAARGAU integriert hat. Darin haben wir neben den Zielen zur Steigerung der Energie- und Stromeffizienz sowie der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien ein Ziel zur Versorgungssicherheit festgeschrieben. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen aber alle einen Beitrag leisten: Bund, Kantone, Unternehmen der Strombranche und so weiter.

Ziele sind das eine, Massnahmen etwas Anderes…

Wir setzen zahlreiche Massnahmen um, um diese Ziele zu erreichen. Im Gebäudebereich engagieren wir uns schon lange und erfolgreich mit der energieberatungAARGAU. Überdies konnten wir per 1. März dieses Jahres unser Förderprogramm Energie aufstocken. Die Massnahmen bei den Gebäuden, insbesondere bei der Energieeffizienz und beim Heizungsersatz, schenken für das Erreichen der klima- und energiepolitischen Ziele besonders stark ein, da dieser Bereich für fast die Hälfte des Energieverbrauchs verantwortlich ist. Weiter setzen wir unser Grossverbrauchermodell um und konnten damit die Effizienz bei den Grossverbrauchern mit rein wirtschaftlichen Massnahmen bisher im Durchschnitt um über 12 Prozent steigern. Und schliesslich unterstützen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien, wo immer das möglich ist: Wasserkraft, Biomasse, Windenergie und Geothermie, wo übrigens noch ein grosses Potenzial bestehen würde. Das grösste Potenzial sehen wir bei der Solarenergie, die wir künftig auch stärker unterstützen möchten.

Die Ziele der kantonalen Energiestrategie sind sehr ehrgeizig. Sind wir auf Zielkurs?

Der im Frühling 2021 veröffentlichte, erste Monitoring-Bericht zur Zielerreichung von energieAARGAU zeigt auf: Die Hauptziele bei der Energie- und Stromeffizienz, der erneuerbaren Stromproduktion sowie der Versorgungssicherheit wurden erreicht. Um die energie- und klimapolitischen Ziele von Bund und Kanton zu erreichen, sind aber weitere Anstrengungen nötig. Insbesondere in den Bereichen Gebäude und Mobilität sind die Herausforderungen gross. Um diese zu meistern, müssen alle einen Beitrag leisten: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft.