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November 2019

ELB-Strategie Nr. 6: Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken

Der Regierungsrat widmet in seinem Entwicklungsleitbild 2017–2026 der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kanton Aargau einen strategischen Schwerpunkt. Er setzt sich unter anderem für langfristig finanzierbare Sozialsysteme und Sozialleistungen ein, und dafür, dass ein möglichst hoher Anteil der Bevölkerung befähigt wird, den Lebensunterhalt selber zu bestreiten. Einen hohen Stellenwert bezüglich Identitätsbildung misst der Regierungsrat den Bereichen Kultur und Sport bei. Landammann Urs Hofmann erläutert die politische Ausrichtung und die Stossrichtungen der Massnahmen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

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Landammann Urs Hofmann, wann und wie erleben Sie im Aargau gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Urs Hofmann: Als Regierungsrat bin ich regelmässig in allen Teilen des Aargaus unterwegs. Dabei treffe ich Menschen in verschiedenen Lebenssituationen und an ganz unterschiedlichen Veranstaltungen. Dabei stelle ich immer wieder fest, wie die Menschen in unserem Kanton in ihren dörflichen oder städtischen Gemeinschaften verankert sind und sich in zahllosen Vereinen oder in Milizfunktionen engagieren. Den kulturellen und den Sportvereinen kommt hier eine grosse Bedeutung zu. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft in irgendeiner Form mitwirken zu lassen. Es soll sich niemand ausgeschlossen und alleine gelassen fühlen.

Unser gemeinsames Ziel muss es sein, möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft in irgendeiner Form mitwirken zu lassen.

Portrait Alex Hürzeler
© Beni Basler / Foto Basler Aarau
Dr. Urs Hofmann Landammann, Vorsteher Departement Volkswirtschaft und Inneres

Der Regierungsrat hält in seiner ELB-Strategie fest, dass die grossen historischen Erfahrungen im Zusammenleben zwischen den Regionen und Kulturen dem Aargau helfen würden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Was hat da der Aargau den anderen Kantonen voraus?

Urs Hofmann: Der heutige Aargau entstand in Paris durch einen Federstrich Napoleons. Er vereinigte drei Kantone der Helvetischen Republik: Aargau, Baden und Fricktal. Das Gebiet des neuen Kantons war bunt zusammengewürfelt. Die Menschen hatten kaum Kontakt untereinander. Die Mauer zwischen den Konfessionen war hoch, das gegenseitige Misstrauen gross. Die einzige Gemeinsamkeit: Alle Einwohnerinnen und Einwohner waren über Jahrhunderte Untertanen ohne politisches Mitspracherecht gewesen. Wie also bringt man solche Heterogenität unter ein gemeinsames Dach? Die Aargauer Gründerväter taten es mit dem Konzept des liberalen Staates. Im Zentrum stand die Einsicht, dass man aus Untertanen verschiedener Herrschaften Bürgerinnen und Bürger eines Staates machen muss. Dies kann nur durch Bildung geschehen. Der junge Staat Aargau baute als erstes eines der ehrgeizigsten Schulsysteme der Schweiz auf. Aus dieser historischen Erfahrung können wir lernen, dass Integration nicht einfach geschieht. Wir müssen sie gemeinsam wollen. Alle müssen sich anstrengen und aufeinander zugehen. Nur so werden wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Lebensbedingungen erhalten und verbessern können.

Wir leben in einer Zeit, die von vielen als von Egoismus und Individualismus geprägt empfunden wird. Was sehen Sie als die grossen aktuellen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Kanton?

Urs Hofmann: Der Kanton Aargau ist wie die ganze Schweiz von Entwicklungen betroffen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt belasten. Der strukturelle Wandel der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts, veränderte Familienformen und die höhere Lebenserwartung fordern die sozialen Sicherungssysteme von Bund, Kanton und Gemeinden. Deren langfristige Finanzierung stellt eine grosse Herausforderung dar. Der Betreuungsbedarf für Menschen mit einer Beeinträchtigung nimmt aufgrund der demografischen Entwicklung und der steigenden Lebenserwartung zu. Die weltweiten Migrationsströme aus Konfliktregionen halten an und erfordern Massnahmen zur sozialen und beruflichen Integration der geflüchteten Personen. Gleichzeitig wird der gesellschaftliche Zusammenhalt aufgrund des Wertewandels und des Nebeneinanders verschiedener Wertesysteme strapaziert. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen lösen Verunsicherung in der Bevölkerung aus, was Nährboden für politische Instrumentalisierung und Polarisierung bietet. Das Bedürfnis nach Orientierung wächst.

Die Sozial- und Gesundheitskosten sind in den letzten Jahren massiv gestiegen und belasten auf der einen Seite die Budgets von Kanton und Gemeinden, aber auch des Mittelstandes. Was bedeutet diese Entwicklung für die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Kanton?

Urs Hofmann: Entscheidend ist, dass wir uns mit unserem Land identifizieren können, dass wir uns "daheim" fühlen. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Gefühl möglichst alle haben können, auch Menschen, die vom Glück verlassen sind und sich alleine fühlen, sozial schwächer gestellte, kranke Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch Menschen, die aus dem Ausland zu uns in die Schweiz gekommen sind und hierbleiben werden. Typisch schweizerisch ist dabei: Verantwortlich für unser Land, für unseren Kanton, für unsere Gemeinde sind nicht die anderen, nicht die Politikerinnen und Politiker, sondern wir alle. Mitdenken, mitgestalten, sich engagieren – das schafft Vertrauen. Gerade dieses Grundvertrauen in die staatliche Gemeinschaft macht die Schweiz aus. Wir müssen es erhalten, stärken und alles vermeiden, was bewusst oder unbewusst einen Keil zwischen die Bevölkerung und unsere Institutionen treibt. Wer dieses Vertrauen zerstört, schwächt die Grundfesten unseres staatlichen Zusammenlebens und schadet unserem Land.

Der Aargau ist ein sehr rasche wachsender Kanton und weist einen Ausländeranteil von rund einem Viertel der Bevölkerung auf. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen werden vor allem raumplanerische und finanzpolitische Aspekte diskutiert. Für die Integration sind "weiche Faktoren" wie Kultur, Sport, Brauchtum usw. genauso wichtig. Wo setzt der Regierungsrat hier den Hebel an?

Urs Hofmann: Die starke Zuwanderung bringt gleichzeitig Herausforderungen und Chancen für den Kanton Aargau mit sich. 55 Prozent der befragten Aargauerinnen und Aargauer sehen in einer durchgeführten Befragung die Zunahme der Bevölkerung kritisch und stellen eher oder dezidiert die Nachteile des Bevölkerungswachstums in den Vordergrund. Angesichts der demographischen Entwicklung mit der Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation, zu welcher auch ich gehöre, werden wir auch in Zukunft auf eine Zuwanderung angewiesen sein. Der Regierungsrat ist sich der grossen Herausforderungen eines weiteren Bevölkerungswachstums bewusst. Gerade in den Bereichen wie Verkehr, Wohnen oder Wirtschaft müssen wir alles daransetzen, dass es nicht nur zu quantitativem Wachstum kommt, sondern dass wir in qualitativer Hinsicht Verbesserungen erreichen können. Dies sind wir auch unserer Umwelt schuldig. Besonders wichtig ist aber auch, dass angesichts der Veränderungen in der Bevölkerung der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht verloren geht: Hier zeigt sich die Bedeutung von Kultur, Sport und dem lokalen Brauchtum. All diese Faktoren sind identitätsbildend und unterstützen den Austausch zwischen der ansässigen Bevölkerung und Neuzugezogenen wie auch zwischen den Generationen. Die kulturelle Vielfalt und die Geschichte werden gepflegt und vermittelt. Mit innovativen Angeboten kultureller Institutionen können auch weitere Bevölkerungskreise angesprochen und damit der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefördert werden. Wie gesagt: Wir müssen allen Menschen eine reelle Chance geben dazuzugehören, in der Arbeit, in der Freizeit, im Quartier, im Dorf, in den Städten.

In der politischen Integrationsdiskussion nimmt das Asyl- und Flüchtlingswesen üblicherweise relativ viel Raum ein. Im Moment scheint eine Beruhigung der Situation eingetreten zu sein. Welchen Stellenwert hat die Integration in der Asyl- und Flüchtlingspolitik des Regierungsrats?

Urs Hofmann: Die Integration von Menschen bezieht sich nicht nur auf den Ausländer- bzw. Flüchtlingsbereich. Genauso geht es um die Integration der ortsansässigen Bevölkerung, die sich an den Rand gedrängt oder benachteiligt fühlt: Leistungsschwächere Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen in schwierigen Lebenssituationen, ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Mühe haben, im Arbeitsmarkt eine faire Chance zu bekommen. Die Integration von Zugewanderten und Flüchtlingen ist insofern nur ein Element einer umfassenden Politik für die Menschen in unserem Land. Auch bei ihnen geht es darum, alle, die langfristig in der Schweiz bleiben werden, gesellschaftlich und beruflich möglichst gut zu integrieren. Mit der Neustrukturierung des Asylwesens und der Integrationsagenda Schweiz lag im laufenden Jahr der Fokus auf dem Flüchtlingsbereich. Wir dürfen jedoch nicht ausser Acht lassen, dass der grössere Teil der zugewanderten Menschen aus den EU-EFTA-Staaten oder via Familiennachzug in die Schweiz kommt. In den nächsten Jahren wird es darum gehen, für die verschiedenen Zielgruppen zweckmässige Angebote zu realisieren und von allen neu eingereisten Personen ein persönliches Engagement im Integrationsprozess einzufordern. Ich bin überzeugt, dass eine durchdachte und zielgerichtete Integrationspolitik nicht nur der beste Weg ist, um die Akzeptanz für eine humanitäre Asyl- und Migrationspolitik zu erhalten und zu verbessern, sondern vor allem auch der ortsansässigen Bevölkerung und damit auch uns allen am besten dient.

Wenn auch nicht mehr im gleichen Umfang wie zur Gründungszeit des Kantons, ist doch der Regionalismus im Kanton Aargau immer noch ein wichtiger politischer Faktor. Erleben Sie ihn eher als belebende Vielfalt oder effizienzhemmende Belastung?

Urs Hofmann: Zweifellos vereinfacht es das Regieren, wenn ein Kanton ein klares Zentrum hat und drum herum ländliche Gebiete und kleinere Städte liegen, in welchen die Bevölkerung relativ homogen ist. Doch zweifellos wäre dies für einen Regierungsrat auch eher langweilig. Ich schätze die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit unseres Kantons und seiner Bewohnerinnen und Bewohner sehr. Sowohl als Privatmensch als auch als Politiker. Denn gerade dies macht meine Arbeit so spannend und abwechslungsreich. Wie die ganze Schweiz ist auch der Kanton Aargau kein Zentralstaat. Die Regionen und Gemeinden haben zu Recht nicht nur historisch, sondern auch noch in der heutigen Zeit eine grosse Bedeutung. Und auch wenn die regionale Identität für viele Fricktaler, Freiämter, Aarauer und Zurzibieter eine grosse Rolle spielt, so sind sie doch auch alle Aargauer und Schweizer. Diesen Zusammenhalt zu fördern und die Bedeutung des Aargaus als wichtigen Kanton unseres Landes immer wieder herauszustreichen, ist eine der schönen Aufgaben meines Amtes, die ich auch in Zukunft mit voller Kraft wahrnehmen werde.

Verantwortlich für unser Land, für unseren Kanton, für unsere Gemeinde sind nicht die anderen, nicht die Politikerinnen und Politiker, sondern wir alle. Mitdenken, mitgestalten, sich engagieren – das schafft Vertrauen.

Dr. Urs Hofmann Landammann, Vorsteher Departement Volkswirtschaft und Inneres