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Spreitenbach: eben noch ganz modern, dann ein Sinnbild für verfehlten Städtebau und jetzt im Inventar

Mit der Verstetigung des Bauinventars als Aufgabengebiet der Kantonalen Denkmalpflege konnte Anfang dieses Jahres auch die Fortschreibung des Bauinventars für die jüngeren Epochen in Aussicht genommen werden. Der Zufall wollte es, dass mit Spreitenbach gerade zum Beginn der Fortschreibung eine Gemeinde zur Bearbeitung anstand, die im 20. Jahrhundert einen ganz besonderen Wachstumsschub erlebt hat.

Als in den 1990er Jahren mit dem damaligen "Kurzinventar" ein systematischer Überblick über schützenswerte Bauten und Kulturobjekte im Kanton Aargau erarbeitet wurde, legte man die Zeitgrenze für die Erfassung des Baubestands auf 1920 fest. Fallweise wurden auch jüngere Bauten berücksichtigt, insbesondere wichtige Kirchenbauten aus dem mittleren 20. Jahrhundert.

Als 2010 zunächst eine reine Aktualisierung des Kurzinventars in Angriff genommen wurde, entschied man sich dafür, die Zeitgrenze von 1920 vorderhand beizubehalten. Mit der Verstetigung des Bauinventars als Aufgabengebiet der Kantonalen Denkmalpflege konnte Anfang dieses Jahres auch die Fortschreibung des Bauinventars für die jüngeren Epochen in Aussicht genommen werden.

Tatsächlich liegt das Jahr 1920 mittlerweile nicht nur deutlich weiter in der Vergangenheit als bei der Erarbeitung des ersten Kurzinventars. Als fachlich breit anerkannte Richtschnur für die Beurteilung der Denkmalwürdigkeit von Gebäuden gilt heute ein Abstand von einer Generation zur Gegenwart, also rund dreissig Jahren, womit die Zeitgrenze für die Erfassung des Baubestands aus heutiger Sicht um 1990 anzulegen ist. Zweifellos ist zwischen 1920 und 1990 auch im Kanton Aargau eine grosse Zahl künstlerisch hochstehender und historisch bedeutsamer Bauwerke entstanden, die in etlichen Fällen auch eine prägende Rolle im Orts- oder Landschaftsbild spielen. Bedauernswerte Verluste machen deutlich, dass gerade diese Objekte rechtzeitig Schutz verdienen. Auch sind die jüngsten Objekte oft einem umso grösseren Veränderungsdruck unterworfen, wenn nach etwa 30-50 Jahren zum ersten Mal eine grössere bauliche Veränderung ansteht.

Der Zufall wollte es, dass mit Spreitenbach gerade zum Beginn der Inventarfortschreibung eine Gemeinde zur Bearbeitung anstand, die im 20. Jahrhundert einen ganz besonderen Wachstumsschub erlebt hat. Im Jahr 1900 war Spreitenbach ein Bauerndorf mit 913 Einwohnerinnen und Einwohner, 2020 waren es mit 12’055 mehr als das Zwölffache. Ein wesentlicher Teil dieses Wachstums auf nahezu städtische Verhältnisse vollzog sich in der Hochkonjunktur der 1950er und 60er Jahre. Spreitenbach kennt man seither nicht nur im Kanton Aargau, sondern auch in der ganzen Schweiz: In der Gemeinde, die in der Nachkriegszeit in das Einzugsgebiet der Stadt Zürich geraten war, entstand 1955-59 nicht nur das erste Hochhaus des Kantons, sondern zwischen 1960 und 1970 auch eines der grössten zusammenhängenden Hochhausquartiere der Schweiz. 1970 eröffnete hier das erste eigentliche Shopping Center nach amerikanischem Vorbild in der Schweiz. Spreitenbach profitierte nicht nur vom Bauboom. Mit dem Rangierbahnhof Limmattal (1967-78) und der Autobahn A1 (eröffnet 1971) bekam die Gemeinde auch die Auswirkungen zweier grosser überregionaler Infrastrukturanlagen zu spüren. Eindrücklich sind die Etappen dieser Entwicklung in der Ortsgeschichte aus dem Jahr 2000 dargestellt (Andreas Steigmeier / Roman W. Brüschweiler / Anton Kottmann, Spreitenbach, Spreitenbach 2000).

Das in den 1960er Jahren erbaute Langäckerquartier von Südosten, Luftbild 1982. Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Fotograf: Hans Krebs, Com_FC01-8957-074, CC BY-SA 4.0

Die wichtigsten baulichen Zeugnisse dieser Entwicklung wurden nun ins Bauinventar aufgenommen. So dokumentiert das Hochhausquartier Langäcker besser als manche andere Überbauung die städtebauliche Entwicklung in den Jahrzehnten der Hochkonjunktur. Nachdem ein Architekt und Immobilienunternehmer 1955 in Spreitenbach noch ganz ohne baurechtliche Rahmenbedingungen und damit auch ohne Gesamtprojekt mit dem Bau eines Hochhauses begonnen hatte, gab sich die Gemeinde vergleichsweise rasch eine damals ausgesprochen moderne Bauordnung. Das Regelwerk war wesentlich von Klaus Scheifele ausgearbeitet worden, einem zu Beginn noch gänzlich unbekannten Bauzeichner, der in der Folge zur prägenden Figur des Spreitenbacher Baumbooms wurde.

Der von Planer Klaus Scheifele erarbeitete und mit der Bauordnung von 1960 verabschiedete Richtplan für das Langäckerquartier. © Gemeindearchiv Spreitenbach

Gemäss den Vorgaben der Bauordnung entstand ab 1961 in der vergleichsweise kurzen Zeit von rund zehn Jahren ein vom alten Dorf deutlich abgesetztes Hochhausquartier, das getreu den Grundsätzen des modernen Städtebaus aus frei angeordneten Scheibenhochhäusern sowie einem Punkthochhaus bestand und von durchgehenden Grünräumen umgeben war. Im gesamtschweizerischen Kontext bildet das Langäckerquartier das einzige Beispiel, in dem eine solche zusammenhängende Hochhausbebauung durch eine grössere Zahl einzelner Bauherrschaften mit jeweils eigenen Architekten erstellt wurde. Indem das Quartier nur kurz nach der Fertigstellung zu einer Projektionsfläche für die nun einsetzende Kritik am Städtebau der Moderne wurde, dokumentiert es auf eindrückliche Weise ausserdem den radikalen Wandel der städtebaulichen Leitbilder in der Zeit um 1970.

Baustellen im Langäckerquartier, 1966, Luftbild von Nordwesten. Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Com_F66-07513, CC BY-SA 4.0

Weil dem Quartier vor allem in seinem städtebaulichen Zusammenhang Bedeutung zukommt, wurde es als Ensemble ins Bauinventar aufgenommen. Eine eingehende Würdigung haben jene Bauten erfahren, denen im Kontext des Quartiers ein hoher Stellenwert zukommt. Im Rahmen der Inventarisation konnten dabei auch die Bauherrschaften und Architekten der unterschiedlichen Hochhäuser identifiziert werden.

Das Hochhaus "casabella" sowie das Punkthochhaus Langäckerstrasse 15 (im Hintergrund), Foto 2020 © Kantonale Denkmalpflege Aargau

Vom Dietiker Architekten Georges Künzler stammen die Pläne für die beiden Scheibenhochhäuser "casabella" und "bellavista" von 1963-65, die sich mit dem freien Erdgeschoss, den Sichtbetonrastern der Balkonbrüstungen und auch mit dem Typus der Maisonnettewohnungen unverkennbar an Le Corbusiers "Unité d’habitation" orientieren. Es handelt sich um sehr frühe Beispiele für den Bau von Eigentumswohnungen, nachdem das Stockwerkseigentum in der Schweiz überhaupt erst 1965 eingeführt worden war (Park Immobilien AG, Baden). Ebenfalls im Stockwerkseigentum erstellt wurde das Punkthochhaus Langäckerstrasse 15, dessen Pläne von Architekt Max Korner stammen und das ebenfalls zum städtebaulichen Kern der Überbauung gehört (ebenfalls Park Immobilien AG, Baden).

Das Hochhaus Bahnhofstrasse 68, Foto 2020. © Kantonale Denkmalpflege Aargau

An der Bahnhofstrasse tritt das Scheibenhochhaus mit der Hausnummer 68 besonders markant in Erscheinung; seine Fassadengestaltung mit quadratischen Balkonlauben und in diese eingestellten kleinen Balkonen zeigt schon von weitem, dass auch hier der damals beliebte Typus der Maisonnettewohnung Verwendung fand (Architekt Brian Dubois für Lareg AG, 1963).

Das Innere des Shopping-Centers kurz nach der Eröffnung 1970. Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Com_L19-0125-0004-0003, CC BY-SA 4.0

Auch das Shopping-Center entstand 1970 ungefähr an der Stelle, die bereits 1960 für eine solche (damals noch kleiner gedachte) Einrichtung vorgesehen war. Seine Entstehungsgeschichte wurde vergangenes Jahr aus Anlass des 50jährigen Jubiläums im Rahmen des Projekts "Zeitgeschichte Aargau" in einem interessanten Film dokumentiert). Wenn das "Shoppi" heute noch so dastehen würde, wie es sich bei der Eröffnung 1970 präsentierte, wäre es als Zeitdokument der 1970er Jahre auch denkmalwürdig. Wie es in der Natur einer solchen Bauaufgabe liegt, präsentiert sich der Baukomplex nach unzähligen Umbauten und Umgestaltungen heute allerdings kaum mehr in den Formen der Entstehungszeit.

Das 1971-78 nach Projekt des SBB-Architekten Max Vogt erbaute Stellwerksgebäude des Rangierbahnhofs Limmattal, Foto 2020. © Kantonale Denkmalpflege Aargau

Auch nach 1970 entstanden in Spreitenbach einige besonders bemerkenswerte Gebäude. Ins Bauinventar aufgenommen wurde etwa das Stellwerksgebäude des Rangierbahnhofs, das vom Zug oder auch von der Autobahn aus fast ebenso markant in Erscheinung tritt wie das Hochhausquartier und das am anderen Ende des Rangierbahnhofs ein Pendant auf zürcherischem Boden besitzt. Es handelt sich um einen Sichtbetonbau, der 1971-78 nach Plänen von Max Vogt entstand, dem damaligen Chefarchitekten der Hochbauabteilung des SBB-Kreises III (Zürich und Ostschweiz). Vogt prägte mit seinen Sichtbetonbauten seit den 1950er Jahren die Bautätigkeit der SBB in seinem Gebiet ganz wesentlich; ein frühes Beispiel stellt das nahegelegene Aufnahmegebäude des Bahnhofs Killwangen-Spreitenbach (Bauinventarobjekt KIL915, Gemeinde Killwangen) dar.

Das Schulhaus Glattler, erbaut 1986/87 durch die Architekten Burkard+Meyer+Steiger, Foto 2020. © Kantonale Denkmalpflege Aargau

Für die vielen neuen Einwohnerinnen und Einwohner brauchte es auch neue Schulhäuser. Ebenfalls Eingang ins Bauinventar fand das Schulhaus "Glattler", das die Gemeinde 1986/87 durch das bekannte Badener Architekturbüro Burkard+Meyer+Steiger (heute Burkard Meyer) erbauen liess. Die sorgfältig gestaltete und zeittypisch filigran detaillierte Schulanlage zeigt eine vergleichsweise zurückhaltende postmoderne Architektursprache, die von Referenzen auf klassizistische und moderne Formprinzipien lebt. Sie bildet aus heutiger Sicht nicht nur ein aussagekräftiges Beispiel für den jüngeren Schulhausbau, sondern auch für die am Kontext und an historischen Referenzen interessierte Architektur der 1980er Jahre.

Gemeinsamer Hof- und Erschliessungsraum der Siedlung "Schleipfe 1", erbaut 1989-91 von Jacques Schader für die Eisenbahner-Baugenossenschaft Spreitenbach, Foto 2020. © Kantonale Denkmalpflege Aargau

Mit diesem Bau und der ebenfalls ins Bauinventar aufgenommen Siedlung "Schleipfe 1" des bekannten Architekten Jacques Schader von 1989-91 sind wir schon nahe an unsere eigene Gegenwart herangerückt. Dass man nicht noch jüngere Bauten berücksichtigt, hat seine guten Gründe, erlaubt doch erst ein gewisser zeitlicher Abstand, die baulichen Zeugnisse einer bestimmten Epoche unvoreingenommen zu betrachten und die bedeutendsten davon zu würdigen. Man darf mit Spannung darauf warten, welche Bauten unserer eigenen Gegenwart in einigen Jahrzehnten Aufnahme ins Bauinventar finden werden.

Mehr zum Thema

  • Film 50 Jahre Shoppi Spreitenbach
  • Roman W. Brüschweiler, Anton Kottmann, Andreas Steigmeier: Spreitenbach. Herausgegeben 2000 von der Ortsbürgergemeinde Spreitenbach, ISBN 3-85545-853-7